Totale Saturation

Olivia Artner, 26 Jahre

Elektronik, die Überhand nimmt: Die beiden mit dem 65. Stuttgarter Kompositionspreis ausgezeichneten Werke ‚Ten Bullets Through One Hole‘ von Laure M. Hiendl und ‚pitch study no.1 / contra violin’ von Matthias Kranebitter spielen mit den Machtverhältnissen zwischen Musikerinnen und Elektronik.

Im Fall von Hiendls Werk passiert das auf eine brutale Art und Weise. Das von den beiden Performerinnen (Viktoriia Vitrenko und Natasha Lopez) im Tonmaterial extrem reduzierte Gesungene wird live verarbeitet: aggressiv geschnitten, vervielfältigt und bizarr pitch-geshifted. Dadurch entsteht ein dem Text des Werkes – welcher sich aus der Werbung westlicher Waffenhersteller und Namen heteromaskuliner Mainstream-Pornos zusammenstellt – gebührender gewaltiger und bedrohlicher Klangwall, welchen die Sängerinnen teils anleiten, oft aber davon überwältigt werden und beinahe darin untergehen. Auch das Video ballert, live-verarbeitet, in grellen Farben obszöne Textausschnitte – die rohe Gewalt dieser Sprache, welche direkt unserer Gesellschaftsmitte entnommen wurde, trifft die Zusehenden wie ein Kugelfeuer.

Bei Matthias Kranebitter wird die zeitliche Steuerung komplett vom Lautsprecher übernommen: aus einem auf die Violinistin (Gunde Jäch) gerichteten Lautsprecher empfängt sie Signaltöne, welche ihr die Befehle zur zeitlichen Gestaltung geben – sie ist der Maschine ausgesetzt. Im Wetteifern mit einer Vielzahl unterschiedlicher Alltagsgeräusche und designter Digitalsounds muss sie sich über Wasser halten. Die akustische Überforderung der Zuhörenden geschieht hier durch die extreme Verschiedenartigkeit der Klangquellen sowie deren dichter Überlagerung – man geht verloren in der Vielzahl der Informationen.

Die Progressivität und gesellschaftliche Relevanz der ausgewählten Werke zeichnet die diesjährige Preisverleihung des Stuttgarter Kompositionspreises aus: der Fokus liegt nicht auf der feinen Klangsuche, abstrakten Strukturen und der Vielfalt eingesetzter Spiel- oder Gesangstechniken sowie der Komplexität der angewandten Technologien – Schwerpunkte, die in der Neuen Musik eine große Rolle spielen. Im Zentrum steht die Haltung, die Rolle, welche digitale Medien in unserem Leben einnehmen, sowie deren Einsatz im künstlerischen Werk zu reflektieren und zu überdenken, sowie gesellschaftliche Missstände durch schmerzhaftes Aufzeigen bewusst zu machen.

Der Einsatz eines Pitch-Shifters ist nicht neu – die Stimmen aber so zu überdrehen und zu überlagern wie in ‚Ten Bullets Through One Hole‘, erreicht einen grotesken Effekt, welcher sich in der Wahrnehmung der Rezipierenden als bedrohlich und seltsam unmenschlich niederschlägt. Das liege auch daran, erzählte Laure M. Hiendl im Interview, dass die Identifikation mit einer singenden Person auf der Bühne, oder eben auch deren grotesker Verzerrung, durch die selbst erfahrbare Körperlichkeit eine besonders effektive sei.

So ist es auch mit dem Einsatz des Stereo-Tonbandes bei Kranebitter: Zentral ist dabei die Steuerung der Performerin, welche wie eine Maschine auf die ihr zugespielten Signale reagieren muss. Die Machtverhältnisse haben sich komplett gekehrt – das Medium hat die Kontrolle übernommen. Das sonst verglichen mit anderen technologischen Aufwänden “einfache” Stereo-Tonband bekommt dadurch eine völlig neue Bedeutung.

Aus diesem fortschrittlichen Kontext völlig herausgefallen ist das an den Anfang des Konzertes gestellte Werk für vier Trompeten “Geträumte Räume” von Isabel Mundry. Wie zwei verschiedene, fast inkompatible Universen stehen sich diese unterschiedlichen Ansätze zur Ästhetik gegenüber. Die abstrakte, sensitive Klangwelt, in welcher es um Räume geht und die nichts mit den restlichen Thematiken des Abends zu tun hatte, wirkte veraltet – das Werk stammt aber auch aus dem Jahre 1999.