Tagebuch einer unheimlichen Uraufführung in meinem Zimmer

Antonia Katharina Marx, 29 Jahre

Durch meine Lautsprecherboxen strömen dunkle, knarzende Klänge. Der Beginn von Günter Steinekes Szene „Der Sandmann“ nach einem Text von E.T.A. Hoffmann klingt, wie in Filmen oft ein großes Schiff vertont wird. Hörspielartig lassen Sprecher Gerhard Mohr und sieben Musiker des ensemble ascolta mit Trompete, Posaune, Schlagzeug, E-Gitarre, Violoncello und Klavier eine Geschichte in meinem Zimmer entstehen: Tiefe, wummernde Klangfäden durchziehen immer wieder den Raum. Sie nehmen Anlauf und hüpfen in metallische, hohe Trompetentöne- und Blechperkussions-Trauben, die reibend klingen. Durch mein Zimmer verläuft plötzlich eine stark befahrene Straße, auf der Geräusche wie wirre Gedanken durch den Raum kreisen.

„Entsetzen ergriff mich.“

Was für eine tief verstörende Erlebniswelt, die meinem beheizten Coronazimmer zum Glück sonst fremd ist. Nur meine Gedanken sollten mal wieder so aus sich herauskommen wie diese Musik – die Lockdown-Bewegungslosigkeit betäubt immer mehr ihre Antriebskraft.

„Immer höher mit der Neugierde wuchs der Mut, auf irgendeine Weise des Sandmanns Bekanntschaft zu machen.“  

Blecherne Tonschlieren erschaffen sich in meinem Zimmer einen Raum, der sich unendlich zieht. Diese Klangblase ist voller Unruhe, energiegeladen – bereit, jederzeit zu explodieren. In ihr scheint ein Perkussionsorchester chaotische Purzelbäume zu schlagen. Sie kommen allerdings nicht zum Stillstand, sondern entladen sich Umdrehung für Umdrehung, Salve für Salve. Dann plötzlich eine bedrohliche Ruhe.

„Mir war es, als würden Menschen ringsherum sichtbar, aber ohne Augen.“

Das Erwarten des Unheils im ‚Sandmann‘ fasziniert mich, aber mit dem Text kann ich mich nicht verbinden. Wie ein Exot besucht er mein Zimmer – ähnlich einem großen Elefant, dessen dicke Elefantenhaut ihm zu eng wird und der seine Unruhe nicht mehr in sich halten kann. Endlich aus der Lethargie gefallen und wieder wach geworden. Bereit etwas zu tun – aber man kann nicht! Die Energie der Komposition ist in meinem Zimmer angekommen.

„Sei überzeugt, dass diese fremden Gestalten nichts über Dich vermögen. Nur der Glaube an diese feindliche Gewalt kann sie in der Tat feindlich machen. Nur Dein Glaube ist ihre Macht.“

Das zitternde Vibrato der Blasinstrumente weckt die Sinne, sie lassen einen Gruselwald vor meinen Augen entstehen. Dort wohnen Gestalten, die sich nicht wohl in ihrer eigenen Haut fühlen. Nie weiß man, wann die nächste Pause ist.Ich liege auf dem Bett und gewöhne mich schließlich doch an den Rhythmus von Stimme, Pause und dem Geisterchor von lauernden Instrumenten.

„Sie schien mich nicht zu bemerken. Und überhaupt hatten ihre Augen etwas Starres, beinahe möcht ich sagen: keine Sehkraft.“

Meine Augen indes werden schwer. Langsam entgleitet mir der digitale Festivalraum, und ich verbringe den Rest des Konzertes in diesem mentalen Zwischenzustand, wo sich das Unterbewusstsein meist erst so richtig entfalten kann. Zum Glück befindet sich dort nicht Nathanaels Sandmann.