Als ich „Tolerance Stacks ll“ zum ersten Mal höre, fühle ich mich nicht nur sehr unkultiviert, sondern bereue vor allem sehr, nicht vor meinem Besuch in der Generalprobe herausgefunden zu haben, was „Neue Musik“ eigentlich ist. Nun, nach diesem Erlebnis kann ich sagen, dass ich jetzt zumindest eine ungefähre Vorstellung habe. Über 67 Minuten eröffnet sich mir eine ganz neue Welt, die mir selten Antworten auf Fragen gibt wie: „Muss das so oder spielt der da gerade falsch?“. An dieser Stelle noch eine kleine Info am Rande für all jene, die so wie ich, technisch absolut nicht versiert sind: Toleranzstapel oder Tolerance Stacks werden im Maschinenbau zur Berechnung von Fehlertoleranzen verwendet. Die kanadische Komponistin Annesley Black will mit diesem Titel auf einen in der Musik verarbeiteten Dialog zwischen Mensch und Maschine verweisen, wobei das gesamte Stück als Maschine in sich zu verstehen ist.Doch dieser von Black erdachte Hintergrund erschließt sich mir zunächst nicht. Im Mittelpunkt dieser Komposition stehen fünf Solisten am Mini-Moog, einem kleinen Synthesizer, der sich anhören kann wie eine Pistole aus den „Star-Wars-Filmen“, Schlagzeug, Turntables, Mixer und Sopranstimme, die sich selbst technisch verfremden kann.
Als Cellistin sind mir viele Arten von Musik und musikalischen Regeln nicht fremd. Als Orchestermitglied kam ich schon oft mit diversen Dirigenten in Kontakt. Doch nie kam mir ein Mann so unnötig vor, wie der Mensch, der „Tolerance Stacks ll“ dirigierte. Ein Rhythmus kristallisiert sich aus dem Wirrwarr von Klängen und Tönen für mich nicht heraus. Die scheinbar wahllos zusammengeworfenen Rhythmen und Klänge lösen in mir zunächst noch das starke Bedürfnis aus, auf die Bühne zu rennen, dem Dirigenten den Taktstock aus der Hand zu reißen und „Stopp!“ zu schreien.
Die vorliegende Szene, die sich da auf der Bühne abspielt, klingt für mich wie eine Mischung aus Oper und Horrorfilm Soundtrack, vielleicht auch mit Samples eines sterbenden Zebras. Doch als ich mich an die kontinuierlich schmerzenden Ohren gewöhne, erkenne ich verschiedene zusammenspielende Muster. Und nicht nur das: Ich beginne sogar erwartungsvoll auf den nächsten unerwarteten Ton, den nächsten Rhythmuswechsel zu warten. Mit einem Mal erschließen sich mir all jene Dinge, die das Stück so außerordentlich und besonders machen. Alle Stimmen scheinen in eine Art Kampf um die Vormacht in diesem disharmonischen Klangmonsun verwickelt zu sein. Was zunächst wie ein einziges Chaos wirkt, hat seine Ordnung. In wechselnden Episoden entsteht ein Dialog zwischen Elektronik und traditioneller Klassik, ein Frage-Antwort Spiel des Ensembles und der Solisten mit gegenseitigen Unterbrechungen und Imitationen. Jedes Mal wenn das Stück droht in konventionelle Rhythmen und eingängige Spielweisen zu verfallen, bricht es ein weiteres mal auf und enthüllte eine ganz neue, dem Zuhörer unbekannte Schicht. Auch als ich einen Blick in die Noten der Kontrabassstimme werfe, entdecke ich eine ganz neue Art, Musik zu Papier zu bringen.
Schon als die Klangregie vor dem Durchlauf alle Instrumente einmal kurz ihr Klangspektrum vorführen lässt, um die Aufnahmemikrophone richtig einzustellen, wird klar, dass „Tolerance stacks ll“ ein ganz neues Hörerlebnis bietet. Mit einem Mal klingt die Tuba gleichzeitig wie eine menschliche Stimme und doch wie ein brodelnder Abgrund und die Solo-Sopranistin wechselt sanft und spielerisch zwischen der distanzierten kühlen britischen Stimme einer Zugansagerin und einer französischen Sängerin in einer Oper. Die vielen Wechsel von Stimmung und Instrumentierung boten dem Zuhörer ein wahnsinnig breites Spektrum an Klangfarben und Ausdruck. Neben den Solisten und dem Ensemble werden eingesprochene Texte über Thomas Edison eingespielt, der Black neben Charles Cros als Muse für „Tolerance Stacks ll“ dient. An den Turntables werden diese dann von der Solistin mit dem „Scratching“ der Schallplatten auf eine Art und Weise verzerrt, die so gar nicht zu den altertümlichen Aufnahmen passen will. Dieses Element sorgt bei mir für kleine Momente der Verwirrung, da mir, wie so oft in diesem Stück, nicht klar ist, was ich da gerade höre und wo der Klang eigentlich herkommt.
Besonders bleibt mir eine Stelle mitten im Stück im Gedächtnis hängen, die sich für mich wie ein Zugunglück anfühlt und sich vor allem durch die angsteinflößende Stimme der Sopranistin äußert, die über den dunklen schrillen lauten Töne des Orchesters schwebt und doch mit einem Mal abbricht. Als es danach still wird, ist das einzige, das ich noch höre, mein eigener Herzschlag, der sich angsterfüllt auf mein bald nahendes Ende eingestellt hatte.
Tolerance Stacks ll hat mich frustriert, wie es noch nie eine Form von Klang getan hat. Jeder Teil in mir sträubte sich gegen die Disharmonien, gegen die undurchschaubaren Rhythmuswechsel und die schrillen Klangfarben. Doch es hat mir auch gezeigt, was es bedeutet, jedes kleinste Detail eines Stücks auszuarbeiten, Monate oder sogar Jahre für die Perfektion der einen Stimme aufzuwenden, mit jeder Faser seiner Person das Schaffen von etwas Neuem zu lieben und sich und seine Kunst dennoch nicht zu ernst zu nehmen. Als die Kanadieren nach dem Konzert gen Bühne hopst und sich mit einem freudestrahlenden Grinsen im Gesicht bei jedem Solisten mit einer Covid- angepasst- angedeuteten Umarmung bedankt, habe ich nichts als Respekt für die Frau, die so viel Herz in „Tolerance Stacks ll“ gesteckt hat.