„War das gerade eine Posaune oder die Violine?“ Dass sich mir überhaupt diese Frage stellt, zeigt, in welchen Dimensionen von Grenzüberschreitung sich Annesley Blacks Tolerace Stacks II aufhält. Wie weit kann man den Klang einer Stimme verfremden, bis die Musik zum Geräusch wird? Wie tritt ein Orchester in einen Dialog mit Schallplattenscratching? Ist das gerade live oder vom Band?
Annesley Black eliminiert in ihrer Komposition jede mögliche Eindeutigkeit und stellt sie einem Kontrast gegenüber, der übliche Konventionen in Frage stellt. Das ist anstrengend für die Musizierenden und das Publikum. Aber genau darum, geht es und der Name deutet es schon an. Als Toleranzstapel bezeichnet man Berechnungsmodelle, wie weit ein Bauteil wie etwa eine Schraube von der Norm abweichen darf, um trotzdem noch funktionstüchtig zu sein. Black erforscht in Tolerace Stacks II genau das in der Musik: Wann bricht die Stimme der Sängerin weg? Wann ist das Scratchen auf einem Turntable nicht mehr vom Orchesterklang drumherum zu unterscheiden? Black weitet Grenzen aus, überschreitet sie und fordert damit viel Konzentration ein. Ihr Stück ist anstrengend, lässt kaum Atempausen und trotz der Abwechslung zieht es sich in die Länge – 67 Minuten lang Unberechenbarkeit.
Annesley Black rührt die Klänge trotzdem nicht wahllos zu einem Einheitsbrei – sie weiß, wie man unterschiedlichste Stile miteinander vermischen kann. Neben avantgardistisch anmutender Durcheinander-Polyphonie lässt sie auch poppige Drumsoli und Klaviereinwürfe in ihre Komposition einfließen. „Die Akkorde hören sich vielleicht ein bisschen jazzy an, das ist eine Neigung von mir“, sagt Black dazu. Dies ist nicht der einzige historische Bezug. Sie lehnt sich an verschiedene Ikonen der Popmusik an, die revolutionäre Aufnahmetechniken verwendet haben: Miles Davies, Pink Floyd; selbst der Erfinder des Phonographen Thomas Edison kommt in dieser Musik zu Wort.
Die Auswahl der Werke, an die sich die Komponistin anlehnt und auch die Instrumentierung (Moog-Synthesizer, klassischer Streicher-Apparat) sind nostalgisch angehaucht. Für Black drück die Musik sogar Schmerz aus. Es ist ein Schmerz über die Opfer, die der Fortschritt verlangt. Als Beispiel erzählt sie von einem Damm in den USA, bei dessen Erbauung viele Arbeiter gestorben sind. An diesem Damm hat sie Geräusche aufgenommen, die sie in dieser Komposition verwendet hat. Für sie schwingt hier immer eine Düsternis in den äußerlich neutralen Motorengeräuschen mit.Tolerace Stacks II eröffnet das ECLAT-Festival mit einem Statement: Fortschritt hat seinen Preis und seine Zeit.