Ganz laut

Hannah Otto, 20 Jahre

„Warum soll ich nicht schreien können – Ganz laut.“ Dass die Perkussionistin Vanessa Porter eine unübersehbare Stärke verkörpert, haben wir beim diesjährigen ECLAT-Festival mit Marta Gentiluccis ‚Canzoniere‘ über den Livestream miterleben dürfen. Eine Stärke in der Fragilität und Intimität ihrer Musik, eine Stärke in ihrem Aufbrechen der binären Erwartungen an ihre Rolle als Musikerin. Die Schicksale der weiblichen Protagonistinnen in Gentiluccis Komposition sind schmerzhaft spürbar. Sobald Vanessa Porter auf der Bühne steht, musiziert ihr ganzer Körper. Empfindsamkeit hilft, die Programme zu verstehen und zu fühlen. Man müsse aber darauf achten, aktuell stark belastende Themen nicht mit auf die Bühne zu nehmen, erzählt sie. Spüren und musizieren, mit viel Achtsamkeit für die eigene Gefühlswelt. „Damit fällt es einfacher, alles als Kunstprojekt zu sehen und nicht als Tagebuch, welches ich gerade meinem Publikum vorlese“.

Das Stuttgarter Theaterhaus ohne Zuschauer*innen, ohne Applaus, ohne Resonanz. Mit dem Livestream als willkommener Alternative ist alles ist nur halb befriedigend, sagt sie. Denn Raum, um alles Revue passieren zu lassen, ist eine Notwendigkeit für so intensive Programme und die Auseinandersetzung mit diesen. Ob ihre Programme die ‚Schizophrenie der Liebenden‘, extrovertierte Werke wie ‚Le corps á corps’ von Georges Aperghis oder die Aufarbeitung von Heimat und Wurzeln beinhalten: Bei besonders kräftigen und lauten Werken kommt die Frage: „Wo nimmst du als Frau diese Stärke her?“ erzählt die Perkussionistin. Es ist fast, als würde ihre Weiblichkeit die Resonanz verstärken. Es ist überraschender, wenn etwas von ihr kommt als dasselbe von einem männlichen Kollegen. Darüber sollten wir nachdenken, sagt sie. Männlich konnotierte Adjektive für Schlagwerke prägen unsere Wahrnehmung.

„Perkussion kann so still, fragil und intim sein“, sagt Vanessa. Welche ihrer Entscheidungen in der Retrospektive wie stark gesellschaftlich geprägt waren, ist jetzt nicht mehr rekonstruierbar, aber die Orchesterarbeit habe sie nie gereizt. In einem männlich geprägten Umfeld sind bewusstes Auftreten und Platz einzunehmen Notwendigkeiten. Gegen die Sprüche und die Vorurteile. Diese Erkenntnisse versucht sie auch ihren Schülerinnen mitzugeben und hofft, ein Vorbild zu sein.

In diesen Zeiten steht alles mit Bleistift im Kalender, erzählt sie. 2021 wäre ihr Jahr gewesen, sagt sie. Ob Lissabon, Stockholm, Dortmund oder Paris: Gerade bewegt sie sich in einem Raum irgendwo zwischen abgesagt, verschoben oder online. „Man muss sich mental auf alles einstellen, es ist keine einfache Zeit.“ Die Resonanz des Publikums fehlt Vanessa Porter, und wie wir alle hofft sie auf die Zukunft.  Doch ihre Priorität sei es den Virus solidarisch zu bekämpfen. „Ich glaube es wird umso schöner, wenn diese Zeit vorbei ist.“