Innenleben eines 18-Jährigen während eines Penderecki-Quartetts

Balthasar Frick, 18 Jahre

Es ist 19:55 in der Nikolauskirche Allensbach. Von der Seite schauen mich zwei Putten etwas mitleidig an, als ich mich in eine der hinteren Bänke schiebe. Gerade noch rechtzeitig. Immerhin nicht zu spät (wie sonst). Ein Mann, der Cellist Marcus Hagemann (Organisator des Konzerts) spricht zu den Zuhörern: Es sei ein Ersatz für den Klarinettisten da (Andrzej Cieplinsky), es seien junge Menschen da (wir), es sei schön, dass alle da sind (etc.). Die fünf Musiker, die in der Probe, die wir im Vorhinein besuchen durften, noch so energisch, ja beinahe cholerisch nach fast jedem Takt über ihre unterschiedlichen Auffassungen der Stücke diskutiert hatten, erscheinen nun adrett gekleidet und gestriegelt im Altarraum. Die Lichter in der barocken Kirche werden gedimmt. Es kehrt Ruhe bei den Zuhörern ein. Das Konzert beginnt.

Es steht unter dem Motto „Abschied“, aber beim Hören der Musik von Krzystof Penderecki, einem Quartett mit Klarinette, Violine, Viola und Cello komme ich nicht darum herum, mir einzubilden, die Instrumente führten einen schlimmen Streit. Es scheint wirklich ernst zu sein. Die Streicher schaukeln sich gegenseitig richtig hoch und sind vollkommen in Rage, als die Klarinette einen Tobsuchtsanfall bekommt.

Normalerweise, wenn ich klassische Musik höre, dauert es nicht mal eine Minute und ich bin mit den Gedanken vollkommen abgeschweift. Nein, nicht abgeschweift, sondern von den Melodien fortgetragen. Diese verlaufen sich ineinander, geben mir die Richtung vor, in die ich dann schwebe. Hier ist das bei bestem Willen nicht möglich, weil man alle 20 Sekunden von der zur Furie gewordenen Klarinette aus seinen wirren Tagträumen gerissen wird. Na ja. Vielleicht ist das ja mit Absicht so?

Nachdem die vier Streithähne sich etwas beruhigt haben, folgt eine ruhigere Passage. Sie fühlt sich so mystisch und psychedelisch an und auch, vielleicht sogar aufgrund des vorangegangenen Streits, irgendwie traurig. Es ist wie das Gefühl, mit jemandem im Streit auseinander gegangen zu sein. Ein ziemlich blöder Abschied. Wer weiß denn schon, wann man sich wieder sieht? Wer weiß denn, ob man sich überhaupt wieder sieht? Dieses Stück berührt mich auf eine andere Weise als alles, was ich bisher gehört habe. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so gefühlt habe. Das macht mich auch dankbar. Dankbar, dass es in letzter Zeit bei mir wenige solcher Abschiede gab.

Als das Stück zu Ende ist, gibt es großen Applaus. Ich klatsche auch und kann mir währenddessen kaum vorstellen, dass irgendeiner der vielen Leute in dieser Kirche, beim Hören derselben Töne auch nur annähernd dasselbe gedacht und empfunden hat wie ich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand beim Betrachten der Innenseite seiner Augenlider auch nur annähernd dasselbe gesehen hat wie ich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass irgendwann irgendwer jemals wieder genauso fühlen wird wie ich gerade.