Klänge in Kunstharz

Marie Braun, 25 Jahre

Dinosaurier, riesige Tausendfüßler, fußballgroße Libellen, schwimmende Echsen und Mammuts: über diese und andere urzeitlichen Tiere konnte man die Augen schweifen lassen, während man bei „Kanons“ der Musik von Johann Sebastian Bach lauschte. Im Museum am Löwentor spielten vier Musiker*innen Werke des barocken Komponisten als Performancekonzert, zwischen Modellen urzeitlicher Lebewesen, rekonstruierten Landschaften, zusammengesetzten Skeletten und Fundstücken archäologischer Grabungen.

„Die Idee ist, Menschen in ihren Alltagssituationen mit Situationen zu konfrontieren, die dort nicht erwartet sind, die Fragen aufwerfen und über diese Fragen eine andere Perspektive einfordern, herausfordern.“ Mit diesen Worten beschreibt Christine Fischer, Kuratorin von DIE IRRITIERTE STADT, das Konzept des Festivals. Geplant in der Zeit vor Corona, sollte es mit Hilfe zeitgenössischer Kunst den Lebensraum Stadt erkunden und auf den Prüfstand stellen. Durch den pandemiebedingten Lockdown bekam das Festival-Motto eine besondere Aktualität, war das urbane Leben von den Einschränkungen doch in besonderem Maße betroffen. Homeoffice in engen Wohnungen, verlassene Straßen und die plötzliche Leere im Kultur- und Nachtleben sind nur einige entstandene Irritationen, die die Stadt in anderem Maße trafen als ländliche Regionen. So bot die DIE IRRITIERTE STADT Perspektiven, um mit der verwirrenden Coronazeit umzugehen und endlich wieder live und vor Ort Kunst genießen zu können. Mit seinen herausfordernden Projekten irritierte es zudem aufs Neue. Etwa mit dem Erkunden neuer Spielorte wie dem naturkundlichen Museum am Löwentor als Konzertsaal. Hierbei stand Johann Sebastian Bachs Zyklus „Musikalisches Opfer“ im Fokus. Im lichtdurchfluteten Museumsraum mit seiner klaren Akustik erlebte dieses Werk eine bemerkenswerte Aufführung, die die eigenen Hörgewohnheiten im besten Sinne irritierte.

Bach komponierte das „Musikalische Opfer“ BWV 1079 im Jahr 1747 als Huldigung an den preußischen König Friedrich II. Selbst ein begeisterter Flötist, stellte Friedrich dem Komponisten bei einer Begegnung eine komplizierte Melodie vor und bat ihn, darüber eine Fuge zu improvisieren. Eine Fuge ist ein Musikstück, bei dem eine kurze Melodielinie nach festen Regeln durch mehrere Stimmen wandert und dabei frei begleitet wird. Mit einer dreistimmigen Fuge konnte Bach der Bitte des Königs aus dem Stegreif nachkommen. Doch für Friedrichs Wunsch nach einer Fuge mit sechs Stimmen musste er sich der Legende nach erst ins Komponierkämmerlein zurückziehen. Nebenbei schrieb Bach dann auch noch zehn Kanons über Friedrichs Thema – die nun im Museum am Löwentor aufgeführt wurden. Ein Kanon funktioniert ähnlich wie eine Fuge, nur ist bei ihm die komplette Melodie festgelegt und setzt in den einzelnen Stimmen zeitlich versetzt ein. Bekannte Beispiele sind etwa „Frère Jacques“ oder „Viel Glück und viel Segen“. Die Kanons von Johann Sebastian Bach sind äußerst komplex und raffiniert aufgebaut, weniger eine Musik zum Genießen als eine rätselhafte Musik um der Kunst willen. Details wie die Reihenfolge oder die Instrumentation sind von Bach nicht angegeben. Somit bedarf jede Aufführung einer Rekonstruktionsarbeit. Ideale Voraussetzungen also, um diese Musik im Museum „auszustellen“.

Regisseur Roman Lembergerarbeitete dazu mit Michael Kleine (Ausstattung), Johanna Ziemer (Dramaturgie) und Hannah Star Rogers (Art-science researcher) ein performatives Konzept. Zu Beginn wurde das „königliche Thema“ der Kanons über die Lautsprecher des Museums eingespielt, bevor Louis Bona an der Viola und Jakob Roters am Violoncello den ersten Kanon spielten, versteckt in einem Forschungslabor im Untergeschoss des Gebäudes. Die Flötistin Shin-Joo Morgantini und Roman Lemberg am Keyboard spielten anschließend an einem zentralen Platz des Museums, der als Forschungs- und Baustelle dekoriert war. Das passte sich gut in das Museumsumfeld ein, denn tatsächlich wird dort gerade eine neue Landschaftsvitrine aufgebaut. Lembergs Kostümierung mit langem Laborkittel tat ihr übriges zu diesem Eindruck: die Musiker*innen wurden zu Forschenden und erkundeten Bachs Klangkosmos. Das wurde später noch deutlicher, als sich die Interpret*innen im ganzen Museum verteilten. Langsam, tastend und fragend sezierten sie Bachs Musik nun geradezu. Sie spielten mit den vielen chromatischen Halbtonschritten der Melodien, provozierten dissonante Zusammenklänge und lauschten den fragilen Tongebäuden. Die Suche der Zuhörer*innen nach dem Ursprung der Klänge entpuppte sich als akustische und optische Entdeckungsreise, denn die Musiker*innen hatten sich direkt bei den Ausstellungsstücken platziert, zwischen den Beinen eines riesigen Elefantenskeletts, in einer Dinosaurierlandschaft oder als urzeitlicher Mensch verkleidet. Die kunstvolle und komplexe Musik war nun selbst Exponat, erschien wie in akustisches Kunstharz gegossen, und konnte hörend erforscht und observiert werden. Zum Abschluss versammelten sich die Musiker*innen wieder an ihrem zentralen Forschungsort und spielten weitere Kanons des „Musikalischen Opfers“. Die nun stark irritierten Hör- und Sehgewohnheiten ermöglichten den Zuhörer*innen neue Blickwinkel auf die erklingende Musik. Man suchte das verzierte Thema Friedrichs heraus, das durch die einzelnen Instrumente wanderte, oder verfolgte die Begleitmelodie. Und am Ende verließ man das Museum, doch schwirrten die Melodien noch eine ganze Weile im Kopf umher. Besonders, da die Kanons nur schwer zugänglich sind, war dies eine faszinierende und den Horizont erweiternde Erfahrung in einer ungewöhnlichen Konzertatmosphäre. Man kann sich nur wünschen, dass das performativ-musikalische Konzept von „Kanons“ Nachahmung findet.