Echte Erfahrung durch einen Bildschirm hindurch

Antonia Katharina Marx, 28 Jahre

Corona-Distancing. Ein Leben zu Hause, in mehr oder weniger großen vier Wänden. Sehr gelegen kommt da die Möglichkeit, beim JungeReporter-Workshop teilzunehmen! Unsere Gruppe begleitet die KarajanMusicTechConference 2020, die nun statt in Salzburg digital im Internet stattfinden wird, und damit überall – auch in meinem Zimmer.

Das Programm ist vielseitig: Vorgestellt werden Innovationen, Ideen und Ansätze der Verbindung von Technologie und Musik. Im Laufe von mehr als 10 Stunden gibt es vieles zu erleben – organisiert in zwei digitalen Zoom-Räumen und Slack. Gesprochen wird über ganz unterschiedliches, wie die Herstellung von Instrumenten in 3D-Printern, die Transkription von Musik durch Co-Arbeit von Menschen und Algorithmen, Möglichkeiten von live-Visualisierung der Musik in klassischen Konzerten oder Herausforderungen und Chancen neuer Künstler-Publikums-Interaktion.

Neben viel Optimismus und Faszination werden auch Reflexionen darüber hörbar, wie diese technologischen Möglichkeiten eigentlich im Verhältnis zum menschlichen Erleben stehen – wann steht sich beides im Weg und wie gelingt eine produktive Verbindung? Gibt es eine gute und eine schlechte Seite von Technologie? 

Über Wege, Menschen zusammen zu bringen, die sonst wahrscheinlich nicht miteinander in Kontakt gekommen wären, spricht Musiker und Komponist Emmanuel Witzthum im Interview. Neue Medien und Web-Apps bieten hier vielfältige Möglichkeiten, Menschen miteinander und mit den Ausdrucksformen des Künstlers interagieren zu lassen. Der Arbeitsprozess in solchen kollaborativen Projekten werde triangulär: neben dem Publikum und dem Künstler formen auch Designer und Technologen die Interaktion aktiv mit. Letztendlich gehe es aber um menschliche Themen, die in künstlerischen Projekten erfahrbar werden und dann sogar zu Empathie und Offenheit führen können. Witzthum betont die Balance zwischen dem Fokus auf Technologie und den künstlerischen Aussagen oder Anliegen.   

Vielleicht ist dieser Einwand vergleichbar mit der Diskussion über den Umgang mit Technik in künstlerischen Vorträgen allgemein: Selbst bei komplexester Instrumentaltechnik geht es doch darum, was am Ende im Publikum wahrnehmbar wird. Wenn sich der Künstler in Virtuosität verliert und darüber die Kommunikation mit dem Publikum leidet, kommt nicht viel an. So ist auch denkbar, dass elektronische Ergänzungen an klassischen Musikinstrumenten oder neue mediengesteuerte Interaktionsformen in Medien derart faszinieren und Kapazitäten binden, dass wenig Raum für die Entwicklung der Aussage bleibt und somit doch dem künstlerischen Ausdruck eher im Weg stehen, als dass sie ihn kanalisieren können.

Auch Kim Arazi, Gründerin des Innovationslabor innosensi, das Kreativität durch multisensorielle Erfahrungen basierend auf Neuro- und Verhaltenswissenschaften fördern möchte,  betont die Balance zwischen Vorteilen und Nachteilen neuartiger Entwicklungen. Die negative Seite der Technologie sei, dass wir etwas abhängig von ihr werden und vergessen, menschlich zu sein. Grundlegende menschliche Sinneserfahrungen werden weniger gespürt, wenn wir vor allem mit Bildschirmen verbunden sind und auch viel von unserem Entscheidungsverhalten auslagern, erklärt sie im Interview.  Obwohl Algorithmen heute gut menschliches Verhalten unterstützen können – wann man am besten aufsteht, wie man schläft, wieviel man läuft und sich am Tag bewegt – und damit einerseits ein neues Bewusstsein schaffen, vergesse man dadurch leicht, selbst auf den eigenen Körper zu hören. Im Sinne von Embodiment  ist der Körper aber schon von sich aus weise. Arazis Projekte zielen daher darauf ab, Erfahrungen zu kreieren, durch die sich Menschen durch ihre Sinneserfahrungen wieder mit sich selbst, mit anderen, mit der Umgebung verbinden können. Dabei verwendet sie auch Technologie, z.B. virtuelle Realität – aber nur, wenn diese die Erfahrung bereichert und erweitert. In diesem Sinne kann man auch den „Virtual Table“ verstehen, der für den Abend angekündigt ist. Mittels Videochat werden die Teilnehmer trotz Corona-Distancing gemeinsam zu Abend essen.

Embodiment und das Angebundensein an den eigenen Körper ist auch im Zusammenhang mit der Konferenz und den Diskussionen ein interessanter Aspekt. Es taucht die Frage auf, wie sehr man sich mit dem Raum, in dem man sich befindet, verbinden kann, wenn man auf einen Bildschirm starrt. Ich bin in meinem Arbeitszimmer, aber nehme durch den Screen gleichzeitig ein anderes Arbeitszimmer wahr. Ich schaue in eine andere Welt. Wie bin ich dann noch an meinen Körper angebunden? Oder wird der Raum hier irrelevant? Und ist es vielleicht möglich, einen größeren Körper durch Gedankenwelt gemeinsam zu kreieren, also die Verbindung doch etwas mehr im Kopf zu schaffen, durch Diskussion und Ideen und weniger in der verkörperten Existenz?

Fragen über Aspekte von Technik und Menschlichkeit streifen auch auf einer anderen Ebene Diskussionen der Konferenz. So betont Sara Kaiser, Programmdirektorin der Luxembourg Tech School, im Panel Innovation & Creativity in the Context of (Tech) Education die Bedeutung von interdisziplinärer Vernetzung von Geisteswissenschaften, Bildung, Kunst und Technologie. Mit einem Zitat von Azeem Azhar stellt sie die Frage, welche Entscheidungen in umwälzenden digitalen Entwicklungen wie Social Media wohl gefallen wären, wenn die Entwickler ebenfalls einen Hintergrund in “Humanities” gehabt hätten. Hier nicht direkt beantwortet, öffnet diese Frage umso mehr Gedankenräume von Auswirkungen echter multidisziplinäre Perspektiven schon im Entstehungsprozess von Zukunftsentwicklungen.

Künstliche Intelligenz – nur künstlich oder auch künstlerisch?

Ist aber nun Künstliche Intelligenz fähig, auch selbst Kunst zu erschaffen? Definiert man Musik als „organisierten Sound“, wie Walter Werzowa, Musiker mit Fokus elektronische Musik, Gitarrist und Komponist, im Panel „Composing with AI“ vorschlägt, trifft man damit wohl den Kern der Rechenkompetenz der Algorithmen. Künstliche Intelligenz kann sogar kreativ sein, das verdeutlicht Prof. Ahmed Elgammal vom Zentrum für Cognitive Science der Rutgers University anschaulich in seinem Panel – aber kann sie auch Kunst hervorbringen? Für Jovanka von Wilsdorf, Songwriterin, Artist Coach und Sprecherin über Artificial Intelligence, ist dafür der Wille zum Ausdruck entscheidend, und den haben Algorithmen nicht: „Zusammen mit AI kann ein Mensch kreativer sein, oder ein anderer Künstler sein, jedoch können Algorithmen oder ein Netzwerk kein Künstler sein.“ So funktioniere Künstliche Intelligenz eher als Werkzeug zur Erweiterung der menschlichen Kreativität oder als Dialogpartner, vielleicht sogar als Muse. Sie locke spielerische Impulse in Menschen hervor und es werden zufällige Fehler produziert, die durch ihre Schönheit oftmals ästhetisch überzeugen. Auch ist es über interaktive Programme mit AI möglich, sich Arbeitsschritte abnehmen zu lassen, so dass mehr Zeit für Kreativität bleibt. Ebenso finden so auch Menschen einen Zugang zum Komponieren, die sonst vielleicht nicht Musik machen würden oder länger brauchen. Kann also AI Zugang zu Komposition in gewisser Hinsicht demokratisieren? Das Resultat ist nicht mehr abhängig von in Tonsatz- oder Kompositionskursen einer Musik(hoch)schule erworbenen Fähigkeiten zur Strukturierung musikalischer Strukturen, Algorithmen können hier helfen. So wird ein spielerischer Zugang zu Komposition möglich, mitunter mit weniger der normalerweise Anfangsprozesse begleitenden Frustrationserlebnissen.

Die Teilnahme an der Konferenz macht deutlich, was technisch möglich ist, auch im Hinblick auf die Organisation. Eine bereichernde Erfahrung. Im Nachhall wird mir aber auch deutlich, dass die Konferenz sich auch ein bisschen angefühlt hat, wie in einem Nebelwald zu stehen. Die Panels haben mein Interesse geweckt, mich abgelenkt, mir Dinge und Ideen sichtbar gemacht, aber mich gleichzeitig auch an meinem Schreibtisch sitzen gelassen, weil ich bis auf Interviews und kurze Fragen doch nicht so richtig interagieren konnte. So werden trotz der interessanten Menschen, die überall online auf dem Bildschirm zu sehen sind, meine Gedanken, in meinem kleinen Zimmer festsitzend, doch mit fortschreitender Zeit dahin gezogen, was noch aufzuräumen ist. Oder sie wandern direkt in den Wald, gelockt von der Sehnsucht, mich jetzt doch mal zu bewegen, die Sonne auf der Haut zu spüren und die Vögel zu hören. Denn wenn ich nicht direkt interagieren kann, dann kann ich eigentlich doch auch Dokumentationen mit Musik- und Technik-Themen später anschauen, denke ich mir, und mache erst mal einen Spaziergang. 

Erst im Nachbereiten und Wieder-Anschauen der Panels tauche ich nochmal in die Ideen ein, nehme sie differenzierter und mit mehr Zeit wahr und bastle mir so meine eigenen Gedanken dazu zurecht. Trete in einen inneren Dialog damit ein. Auch mit Abstand betrachtet, macht es für meine Erfahrung als Zuschauerin der Diskussionen keinen Unterschied, ob diese live ist oder vorher aufgenommen.

Dies hat sich für mich erst zum Abschluss der KMTC grundlegend geändert,  beim Virtual Dinner Table. Denn dort kann ich alle Teilnehmer sehen,  jeder in seinem Zuhause mit eigenem Essen inspiriert vom Frühling. Zusammen mit ihren beiden Kolleginnen Luciana Carvalho Se und Chelsea Turowsky führt Kim Arazi durch den Abend. Neben Konversation gibt es drei Musikbeiträge und ein Gedicht. Berührend sind die Momente, in denen alle stumm geschalteten Teilnehmerbilder nach diesen kleinen Konzerten in die Kamera klatschen – ein Klatschen, dass nun visuell erfahrbar wird. Die Wahrnehmungskanäle haben sich verschoben. Das sonst sich akustisch zu einem Klangchor verwebende Hände-Ineinanderschlagen  wird zur gemeinsam ausgeführten Choreographie. Beim Zuprosten fühle ich mich als Teil einer großen Gruppe, weil wir alle das gleiche machen. Sich gegenseitig zu sehen und gleichzeitig das gleiche zu tun (nämlich essen), ist schön. Die Musik und die Inputs sind schöne Inspirationen.

Die Moderatoren animieren die Gruppe und organisieren Redezeiten. Dies ist tatsächlich notwendig, da im Virtuellen Raum der Ort nicht räumlich unterteilt ist, was normalerweise die Gespräche von Tischnachbarn strukturiert. Dann ein Wechsel an kleinere virtuelle Tische von 6-8 Personen. Hier erst wird etwas Unbehagen spürbar – wer ergreift wann das erste Wort? Es wird deutlich, dass wir fast nichts über die anderen wissen,  man sich auf Anhieb vielleicht gar nichts zu sagen hat, weil man sich noch nicht kennt. Und es ist auch nicht so leicht möglich, mit einer banalen, mittellauten Bemerkung seinen direkten Sitznachbarn kennen zu lernen, weil hier unklar ist, wer der Sitznachbar ist. Im Gegensatz zu einem echten Tisch, an dem man auch mehrere Unterhaltungen gleichzeitig führen kann – erst mal mit seinem Nachbarn und sich nach und nach in andere Gespräche einklinkend auch mit mehreren gleichzeitig, ist es hier doch erst mal unklar, wie so eine Gruppenunterhaltung zu organisieren ist. Denn es kann wirklich nur einer sprechen. Räumliche Distanzunterschiede, die dem Ohr helfen, Gespräche zu filtern gibt es nicht in der virtuellen Welt. Parallelhandlungen vermindern die Aufmerksamkeit hier ungleich stärker als im „dreidimensionalen“ Leben.

Im Interview am Morgen hat Kim Arazi das Vorhaben auch als Experiment beschrieben. Im Gegensatz zu den Dinners, die sie sonst in unterschiedlichen Kontexten organisiert, werde es spannend, wie die Interaktion beim Abendessen durch einen Bildschirm übertragbar sei und wie die Energie und die Gefühle, die bei gemeinsamem Essen in einem Raum entstehen, nun auch über einen Bildschirm entstehen können. Der Fokus liege mit den Musikbeiträgen auf dem Hörsinn, da die anderen Sinne (außer dem visuellen) natürlich nicht durch einen Bildschirm direkt anzusprechen seien.  Deswegen sei es die Idee auch eher, die Menschen zum Innehalten zu bewegen, dazu mit sich selbst zu sein und sich gleichzeitig als Teil von etwas Größerem zu fühlen. Dies ist gelungen. Und die Coronakrise wird wohl dazu führen, dass sich noch mehr Möglichkeiten herausbilden werden, wie sich Gemeinschaften kreieren lassen, ohne dass man sich direkt treffen kann. Situationen, mit denen wir mit steigender Erfahrung bald auch immer mehr Routine entwickeln werden.

Obwohl auf der KMTC zahlreiche Ideen, Projekte und Lösungsansätze präsentiert werden, stellt die Konferenz doch auch viele Fragen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Musik in der Zukunft weiterentwickelt und welche Verbindungen von Technologie und menschlicher Erfahrung sich durchsetzen werden.