Immaterielle Dinnermusik

Antonia Katharina Marx, 30 Jahre

„Immaterial“ von Chaya Czernowin wird als Livestream direkt in unsere Küche übertragen. Die ganze WG hat sich versammelt, um Neue Musik anzuhören, bei Dinner mit Kerzenschein. Der Laptop leuchtet in der Dunkelheit, die Musikbox überträgt den Ton in der Lautstärke, die wir wählen. Dass es experimentell wird, habe ich die anderen sicherheitshalber mal vorgewarnt.

Das Ensemble der Neuen Vokalsolisten beginnt atmend. Das klingt wie im Yogasaal, wenn die Feueratmung auf dem Programm steht! Als nächstes ploppt und knackt ein Mischlaut aus D und T. Er ist durch die Mikrophone so verstärkt, dass er plötzlich ganz nah am Ohr ist. Dazu ein scharfes S, dass die Luft zu durchschneiden scheint. Dann löst tiefes Summen das Ploppen ab. Gleichzeitig durchdringen sehr hohe, sehr lange Töne den Raum. Meine Mitbewohner sind verwirrt: „Also Gesang ist das für mich weniger.“ Das, was die Neuen Vokalsolisten hier performen, ist auf jeden Fall anders als Chormusik. Das Material bewegt sich an der Grenze zwischen Tierimitation und abstrakter Improvisation. Wie sich hier ein gesummter Ton zu einem Gebrumme, zu einem unterdrückten Schrei, zu einem Seufzer entwickelt, hinterfragt bekannte Ästhetiken und spielt mit der Wahrnehmung.

Das Kratzen von Besteck auf den Tellern in unserer Küche fügt dieser Überlagerungsmusik metallische, hohe Klänge hinzu. Und die Kaugeräusche meiner Mitbewohnerin erscheinen plötzlich unglaublich laut! Im Konzertsaal flattern inzwischen F-Laute. Es zischt, schnalzt und brodelt. Luft wird durch den Raum bewegt. Klänge prasseln impulshaft aus den Lautsprechern, dazu ein tiefes Stöhn-Schnarchen. Das fühlt sich an, wie in einer Fledermaushöhle zu sitzen. Es klingt gleichzeitig stimmlos und saftig. Die sich wandelnde Soundkulisse löst bei mir inzwischen Assoziationen von Motorengeräuschen aus. Meine Mitbewohnerin findet: „Klingt ein bisschen wie ein feuchter Furz“.

Czernowin erschafft Klangwelten, die sich in einer langsamen Metamorphose befinden – und zwar ohne auf Melodien zurückzugreifen. Das Komponieren mit Konsonanten, Atemlauten und vokalhaften Stimmäußerungen ist zwar nicht neu, aber das nimmt „Immaterial“ für mich nichts an Faszination. Das Stück erscheint wie ein mystischer Klangwald, bei dem man unbedingt mal in der Mitte der Mikrophone stehen müsste, um die Geräusche von allen Seiten zu spüren.  

Im Gespräch mit den andere ECLAT-Reportern gehen die Meinungen über „Immaterial“ allerdings auseinander. Die Diskussion wirft für uns die Frage auf, wann ein Stück gefällt. Wann empfindet man Musikkunst als wichtig und relevant? Muss der Klang neuartig sein oder mich als Zuhörende zu neuen Gedanken anregen? Wenn das nicht passiert, ist es dann langweilig? Für mich stellt sich anschließend die Frage, was man in einem Konzert der Neuen Musik sucht. Möchte ich unterhalten werden oder Virtuosität erleben? Will ich überrascht werden und Klänge hören, die ich vorher noch nie gehört habe? Oder suche ich durch das Erlebnis von Tonkunst so etwas wie Transformation? Wie lange kann dieser Effekt nach dem Konzert überhaupt anhalten?

Beim Erleben der wandlungsfähigen, facettenreichen Stimmklänge von „Immaterial“ tritt in mir jeglicher kognitiv-verkopfter Mustererkennungswahn in den Hintergrund. Meine Aufmerksamkeit ist nämlich ganz eingenommen von den Wahrnehmungssinnen. Die langsamen Metamorphosen geben mir viel Zeit, genau hinzuspüren: Stimmklänge resonieren an unterschiedlichen Körperteilen!  Dieses feine Erlebnis ist eingängig und lässt mich verschiedene Stimmungen energetisch erfahren: flirrend, leicht und agil, aggressiv und dicht, entspannt, sakral und erhoben. Assoziationen von Wesen, von einem Chor in einer Grotte oder von mystischen Naturräumen tauchen vor meinem Auge auf.

Im Programmheft zu „Immaterial“ wird ein „imaginäres, immaterielles Klangtheater“ angekündigt, das den Zuhörenden erlaubt „ihre eigenen Geschichtenerzähler zu werden“. Damit ich Geschichten sehe, muss ich die Augen schließen. Das Kamerabild zieht meinen Fokus aber immer wieder auf die Klangerzeugung. Ich beobachte und rätsele viel über die Verrenkungen in den Mundräumen der Neuen Vokalsolisten. Das lenkt mich zeitweise ab. Und meine Mitbewohner neben mir sowieso: „Wars das jetzt?“ – „Ne, da grunzt doch noch einer.“ – „Ja, da heult gerade auch noch jemand im Hintergrund.“ Das Hören von Neuer Musik ist eben etwas, dem man sich auf viele Weisen annähern kann!