Konzert Nummer 19. Krass. Krass, auf so vielen Ebenen. Da ist natürlich die herausragende musikalische Kompetenz von Viktoriia Vitrenko. Da ist eine unglaubliche dramaturgische und performative Perfektion. Da ist ein Publikum, dem es die Sprache verschlägt. Da ist Redebedarf.
Was ist geschehen in diesen 100 Minuten Solo-Performance? LIMBO, Solo-Auftritt mit Gesang und Klavier, fünf Auftragstücke, davon vier Uraufführungen. Laut Programm soll es um den Schwebezustand der Isolation gehen. Vitrenko macht sich in diesem Konzert auf die Suche nach Gefühlsklarheit, möchte eine musikalische Antwort finden auf die Frage: „wie geht es dir?“ Dabei wirkt sie zwiegespalten zwischen einer Ruhe „an der Grenze zum Atemstillstand“ und einem tiefen Sehnen nach Lebendigkeit.
Auch die musikalische Darbietung bildet ein Spannungsfeld. Agata Zubels „3 Songs“ stehen am Anfang. Ruhig und mit vermummten Mund der Sängerin erklingt nur ein zartes Summen, Vitrenko begleitet sich selbst mit leisen Klaviertönen. Mit jedem der so unterschiedlichen Liedzyklen des Abends, die jeder eine Art der Verarbeitung und Ausdruck innerer Verzweiflung zu sein scheinen, fallen Schichten der Mumienverbände ab, in die Vitrenko eingebunden ist. Mit dem Ablegen der Schichten wird ihre Stimme lauter, zugleich lassen sich aber auch mehr und mehr Verletzungen auf ihrem Körper erkennen. Diese Isolierte ist angegriffen und geschwächt – aber nicht zum Schweigen zu bringen. Es folgen Schreien, Tanzen, Kämpfen: In den Stücken von Alla Zagaykevich und Ying Wang werden entschlossen „Signs of Presence“ gesetzt. Den Willen, Verborgenes zu beleuchten, lebt Vitrenko schließlich in „Illuminations. 3 Songs“ aus. Nach diesem Ausbruch nach außen folgt ein in-sich-Kehren: Sven Ingo Koch widmet seine „Simple Songs & Lieder des Verzehrens“ der Künstlerin, bezieht sich auf Gedichte Jan Wagners, die das Verzehren in seiner Bedeutung dramatisch darstellen. Vom Genuss schmackhafter Maulbeeren entwickelt sich der Erzählstrang über das Blutbad eines Marders im Taubenschlag, bis zur brennenden Zerstörung eines Streichholzes. Diesen Sturm von Andeutungen auf politische und soziale Missstände verdauend, folgt der Abschluss des Abends im Maxim Shalygins „Liedern der Heilgen Narren“. Heilige werden durch die Ängste einer Isolation möglicherweise zu Narren. Außerdem: Heilige werden als Narren bezeichnet oder weggesperrt, dieser Missstand erschließt sich mir beim Hören dieses Werkes für Frauenstimme und Klavier. Viktoriia Vitrenko präsentiert sich also sehr variabel, einerseits scheint es ihr nicht um eine genaue Intonation zu gehen, wenn sie mit einer unglaublichen stimmlichen Präsenz verschiedensprachige Texte mitreißend vertont. Gleichzeitig begegnet sie den Werken mit höchster Akkuratesse.
Die Künstlerin arbeitet mit ihrem Projekt ihre Verzweiflung und Selbstkonfrontation im Lockdown auf, zugleich spricht sie von der „zerplatzten Demokratie-Bombe in Belarus“. Das Konzert ist Maria Kalesnikava gewidmet, der belarusischen Oppositionsführerin. Wir sind auf politischen Aussageinhalt eingestellt. Dennoch, die Notwendigkeit und Entschlossenheit hinter dieser Aussagekraft, die Tragik und auch die Konfrontation mit dem Schicksal Kalesnikavas und der kaum vorstellbaren Gesamtsituation schockieren, rütteln wach. Wir sehen eine lebensfrohe Frau, gefeiert von ihren Anhängern, Fans der Freiheit. Wir sehen auch ein Bühnenbild, das einer Gefängniszelle gleicht. Absurd, dass diese Frau da auf der Leinwand nun für 11 Jahre in so einer Zelle gefangen gehalten werden soll.
Wenn ich darüber schreibe, öffne ich vielleicht ein riesiges Fass, für das es keinen Deckel mehr gibt, so sorge ich mich. Und auch die anderen um mich herum geben sich vorsichtig. Gleichzeitig wäre es aber ein Unding, dieses Unfassbare unbeachtet zu lassen. Dies ist das Konzert, das mich im Festival am meisten mitgenommen hat, das Konzert, das ich als am wichtigsten empfinde, das einem die Sprache verschlägt, das Konzert, dem eine Stimme gegeben werden muss! Ich möchte mich nicht der Größe dieses riesigen Etwas stellen, nicht so tun, als könnte in Worte gepackt werden, was sprachlos macht. Aber der Auftritt macht eines ganz besonders deutlich, dass man seine Sprache nutzen muss, solange man sie hat. Aus dem Werk überträgt sich also eine Verantwortung auf uns. Eine Verantwortung, nicht länger hinzunehmen, dass Macht vor Mensch geht, dass Unterdrückung über Freiheit bestimmt, dass Zensur verstummen lässt.
Das Konzert zeigt, wie Ohnmacht verzweifeln lässt. Eine Ohnmacht, erzeugt durch Machtmissbrauch, erlebt durch Sprechverbot. Kritische Stimmen wurden und werden weltweit zum Verstummen gebracht, Kritik gibt es, aber auch Druck durch Zensur, Schrecken und Bedrohung.
Den Schrecken einer Gefängniszelle, unschuldig zu 11 Jahren Haft verurteilt, können wir nicht nachempfinden. Viktoriia Vitrenko schafft es dennoch, durch ihre Darbietung tiefe Verzweiflung musikalisch auszudrücken, um diese Emotionen dann mit Hilfe des reduzierten Bühnenbildes auf den Blick aus einem Gitterfenster zu übertragen. Die Solistin präsentiert dem Publikum ihre isolierte Wahrnehmung wie aus einer düsteren Gefängniszelle auf der Suche nach einem Lichtblick. Noch ergreifender wird das Konzert mit Überblenden der Close-Up-Aufnahme Vitrenkos und Aufnahmen Maria Kalesnikavas auf der Videoleinwand im Hintergrund, bei politischem Engagement vor ihrer Inhaftierung. Ganz unmittelbar zeigt sich die Verbundenheit der beiden als Kolleginnen und Freundinnen, aber auch als Botschafter eines Freiheitskampfes in einem unfreien Regime. Interessant auch die zwischenzeitlichen Pausen, die Vitrenko einlegt, das Publikum verharrt still, ist zu gebannt, diese besondere Atmosphäre zu stören. Das Stück verstummt kurzfristig. Aber es geht weiter.
Vitrenko bringt mir das Schicksal Kalesnikavas näher, konfrontiert im Konzertsaal bin ich fast schon gezwungen zu einer Reflektion der Situation. Wie schafft Vitrenko das? Keine sachliche Berichterstattung, sondern eine zutiefst emotionale, intime Darstellung der Dinge begründet hier neue Empathie, neuen Willen zum Verständnis, neues kritisches Denken. Als im Schlussteil ein „Agnus Dei“ die ohnehin schon beklommene Stimmung vervollständigt und als sich Vitrenko im ausgiebigen, anerkennendem Schlussapplaus den Tränen nahe beim Publikum bedankt und verabschiedet, gelange ich zur Gewissheit: Irgendetwas muss getan werden, irgendwie müssen Unterdrückende, müssen Unrecht-Tuende doch aufgehalten werden, irgendwo muss es doch eine Lösung geben.
Ich kenne keine Lösung. Auch wenn ich nicht hinnehmen will, was passiert. Vielleicht ist dieses Nicht-Hinnehmen, das Nicht-Wegschauen oder ein Nicht-Beschweigen ein Anfang. Ein Aufruf, all denen eine Stimme zu geben, denen sie genommen wird. Was passiert, darf nicht stillschweigend hingenommen werden. Nicht, solange wir eine Stimme haben – und sei es nur eine leise.
Für Maria Kalesnikava. Für Freiheit.