Das Ensemble Musikfabrik hat schon angefangen zu spielen, wir ECLAT-Reporter wollen noch schnell unauffällig in den Konzertsaal schleichen. Die Tür knarrt. Ausgerechnet, der Lärm stört doch die Musik. Wie blöd, so eine Tür zum Konzertsaal einzubauen! Die Tür klappt hinter uns zu. Doch das Knarren verstummt nicht – das ist die Musik!
Willkommen in der Generalprobe zur Uraufführung von Tolerance Stacks II. Was passiert hier? Keine Ahnung. Viel, fast zu viel und gleichzeitig nichts, nichts wirklich zugleich. Die Musiker:innen spielen ihre Instrumente, genauso, wie man sie nicht spielt. Zumindest bevor man diese Komposition erlebt. Ein Horn, das mehr ächzt als klingt, eine Klarinette, die überhaupt nicht mehr nett wirkt und eine Tuba, die Würgegeräusche produziert. Ein hilfesuchender Blick ins Programm verrät: Die Komposition ist das Werk Annesley Blacks, geschrieben für fünf Solisten und Ensemble.
Die Auswahl der Solisten, die mit dem Ensemble auftreten, lässt bereits erahnen, dass es sich keinesfalls um gewöhnliche Musik handelt. So greifen laut Annesley Black Moog, No-Input-Mixer, Turntables, Drum Set und Sopranstimme (von der Sängerin selbstständig mit Effekten versehen) die Idee des Werkes auf, das Aufeinandertreffen analoger Instrumente und analog gespielter Musiktechnologie. Ein Hauch von gestern weht durch den Saal, weil die Moog als Synthesizer-Urgestein nur noch von Spezialisten gespielt werden kann und besonders klingt, aber wesentlich limitierter ist im Vergleich zu modernen Computern. Einen ganzen Sturm von gestern auch, da der Ursprung der Hauptaufnahme auf den Turntables von 1888 stammt – die ersten Aufnahmen von Klang überhaupt. Die Erfindung des Phonographen durch Thomas Edison und das Verhältnis zwischen Livemusik und abgespielten Tönen sind ein großer inhaltlicher Aspekt des ganzen Werkes. Zuhörer:innen stehen vor der Frage, inwiefern das Phänomen Musik auf Tonträger aufgenommen werden kann und wie sich ihre Wahrnehmung durch ihre Abspielbarkeit verändert. Annesley Black ist fasziniert von der alten Technologie, Klänge, die längst vergangen sind, heute noch hören zu können. Ein weiterer Inhaltsaspekt ist die Spannung zwischen Mensch und Maschine , im Programm treffend beschrieben und tatsächlich tritt der Zuhörende bei diesem Werk in ein Spannungsfeld.
Wie der Titel erkennen lässt, ist dieses Gebilde aus Lärm die Fortsetzung einer Idee des Musizierens mit den Musiktechnologien. Der Unterschied zu ihrem ersten Werk dieser Art besteht laut Komponistin darin, Instrumentalstimmen und elektronische Inputs nun mehr zu mischen. Außerdem weist der Titel bereits auf die nächste Eigenheit des Werkes hin: Tolerance.
Toleranz des Zuhörenden erfordert das Werk ganz sicher. Denn mit dieser zunächst gewöhnungsbedürftig erscheinenden Musik werden jegliche Toleranzgrenzen des Wohlklanges ausgetestet und ausgereizt – Resultat ist ein schaurig schöner Sound, der vor allem eines kann: überraschen. So lässt sich nie der nächste Schritt erahnen, ständig wird man mit neuen Impulsen von irgendwo her überrumpelt, bevor Zuvoriges überhaupt verarbeitet werden könnte. Ständige Penetration erwartet die Zuhörer:innen, es ist keine Seltenheit, nicht zu wissen, woher ein Ton gerade kommt, geschweige denn, was dieses befremdliche Geräusch eigentlich ist. Die 67 Minuten, welche das Stück dauert, werden von dieser tiefen Verwirrung geprägt sein über Gehörtes und eifrige Versuche, Undefinierbares, Unbekanntes einzuordnen.
Blacks musikalische Ausarbeitung wirft für das Publikum jedoch auch eine andere Frage des Aufnehmens auf: Wie viel Musik kann ein Publikum auf einmal aufnehmen, wie viel kann ein Mensch von den unzähligen Impulsen aufnehmen und verinnerlichen? Die Sopranistin Juliette Frazier spielt mit genau diesen Fragestellungen und vermischt die Wahrnehmungsebenen der Livemusik und der Technisierung. Indem sie selbst ihre Stimme immer wieder elektronisch verzerrt, zeigt sie die Möglichkeit, den Charakter einer Musik durch ihre Reproduktion beziehungsweise Nachbearbeitung zu verändern.
Mit der Uraufführung von Blacks Musik am Abend bekomme ich eine zweite Chance, mich der Überforderung zu stellen. Ich stelle meine Ohren zurück auf Anfang und bin bereit auf alles, was in „Tolerance Stacks II“ auf mich einprasseln wird. Gibt es in diesem Chaos überhaupt eine Art Aussage? Aus dem Titel bleibt noch Stacks zu klären. Laut Programmtext irgendein Teil aus der Industrie, um zu prüfen, ob mögliche Fehler eines Produkts noch im Toleranzbereich liegen. Reicht aus, um zum Aussageinhalt zu gelangen: Wie viel geht, bis es nicht mehr geht? Wie extraordinär darf Musik klingen, bis sie auf Ablehnung stößt?
Ensemble und Solisten stehen wie im Kampf gegen Tonband und maschinelle Produkte, die elektronischen Signale. Auch in der Uraufführung ist das Chaos, von überall her irgendwelche Töne zu hören vergleichbar mit einem Filmset, dessen Geschehen nur mit Drehbuch vollständig verstanden werden kann. Ich habe durch meinen Besuch in der Generalprobe immerhin ein paar herausgerissene Seiten in der Hand. Es gibt Spannung durch starke Dissonanzen oder einfach unglaublich schrille Töne. Das Verhältnis zwischen Tonbandaufnahmen und Instrumentalmusik entwickelt sich vom Konflikt zum Dialog, wobei sich die regelmäßigen Nachahmungen des jeweils anderen teilweise hart an der Grenze zur Nachäffung befinden. Stellenweise hört sich das musikalische Trubel an wie ein Störsignal, erinnert an außerirdische Signale und würde das Auftreten eines Aliens völlig legitim erscheinen lassen. Es geht jedoch um mehr als Spannung. Es geht auch um das Lösen davon, das Aufeinanderzugehen von Mensch und Maschine. Das geschieht auch mal ironisch. Mit unglaublicher Ernsthaftigkeit werden scheußliche Klänge gespielt, es könnte fast von einer Vergewaltigung der Instrumente in ihren sinfonischen Charakteren gesprochen werden. Doch durch genau diese Überzeugung wirkt das Ganze jetzt wie eine großartige Parodie eines gewöhnlichen Orchesterwerkes. Wir haben es hier mit Selbstironie der Extraklasse zu tun, wer selbst so über sich lachen kann, muss einen sehr ausgereiften Kern besitzen.
Das Konzert eröffnet das ECLAT-Festival im Theaterhaus, zugleich ist diese Uraufführung auch die erstmalige Übergabe des Stückes von der Komponistin an ein Ensemble. Wie zufrieden ist Annesley Black mit der Realisierung ihres Schaffens? In der Generalprobe gibt es eine Unterbrechung, Die Komponistin kommt angerannt, ruft aufgeregt, there is a lot to comment, but at least one … Es sei zu laut. Diesen Kritikpunkt nimmt das Ensemble an, der Cellist hatte sich ohnehin die Ohren zugehalten. Doch insgesamt gilt zu sagen, die Generalprobe ist geglückt, well done Annesley lautet das Fazit des Dirigenten, und sie antwortet zufrieden mit well done everyone. Anders als Musikeraberglaube denken lässt, folgt auf diese feurige Generalprobe ein fantastisches Konzert. Beim Schlussapplaus macht die Komponistin einen Freudensprung.