Mein Orlando-Tagebuch

Hannah Floto, 24 Jahre

Als SanssouciReporter haben wir in einer kurzen, aber intensiven Workshopwoche unglaublich viel erlebt: Musik begegnete uns dabei auf ganz unterschiedliche Weise – mal im Gespräch mit Künstler:innen, mal im Konzertsaal oder bei Probenbesuchen. Wir lernten das Cembalo und den Hammerflügel kennen und erfuhren vom Humboldt-Experten Prof. Ottmar Ette sowie der Musikwissenschaftlerin Prof. Gesa zur Nieden mehr über die Verbindung zwischen Musik und Reisen. Auch die große Fahrradkonzerttour „Grand Tour“ und mehrere Konzerte Alter Musik gehörten zu unserem vielfältigen Programm. Das Herzstück der diesjährigen Musikfestspiele Potsdam Sanssouci aber hat uns die ganze Woche über begleitet: die barocke Oper „Orlando generoso“ des italienischen Komponisten Agostino Steffani.

4 Tage bis zur Premiere – Wie führt man heutzutage eine barocke Oper auf?

Das erste Mal treffen die Sanssouci Reporter auf Agostino Steffanis Oper Orlando generoso vier Tage vor der Premiere. Wir sind dabei, als einige Schulklassen vor der Probe einen exklusiven Einblick in die Inszenierung bekommen. Begrüßt werden wir von niemand Geringerem als Dorothee Oberlinger persönlich – Dirigentin, Blockflötistin und Künstlerische Leiterin der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. Sie erzählt uns, dass die Oper von Instrumenten begleitet wird, die bereits zu Zeiten der Uraufführung 1691 in Hannover gespielt wurden. Die Musiker:innen des auf Barock spezialisierten „Ensemble 1700“stellen einige ihrer historischen Instrumente vor: Eine Violine mit Darmsaiten, die einen besonders warmen Klang erzeugt oder auch eine kunstvoll verzierte Laute.

Als erster Sänger betritt der Bassbariton Sreten Manojlović die Bühne. Vor gerade einmal einer Woche wurde er kurzfristig angerufen, um für einen erkrankten Kollegen einzuspringen – und übt seither mit Hochdruck das auch ihm bis dahin völlig unbekannte Werk. Noch kann er nicht alle seine italienischen Arien und Rezitative auswendig. Trotzdem wirkt er erstaunlich entspannt: „Natürlich ist es intensiv, aber es macht auch unglaublich viel Spaß, und der Druck perfekt zu sein ist kleiner“, sagt er mit einem breiten Lächeln. Auch deswegen machen die Jugendlichen große Augen, als Sreten Manojlović mit ausdrucksvoller Stimme und Mimik eine italienische Arie anstimmt. Auch die zauberhafte Stimme von Hélène Walter hören wir zum ersten Mal. Als sie die herzzerreißende Arie „Se t’ecclisi o bella face“ (Wenn du das schöne Gesicht verdunkelst)vorträgt, ist sogar ihr Kollege sichtlich ergriffen.

Die Bühne ist komplett weiß. Rechts und links stehen zwei schräg zusammenlaufende Wände, die den Blick in die Tiefe lenken. In der Mitte befindet sich eine vertikale Tafel, bedeckt mit einer weißen Tischdecke. Türen öffnen und schließen sich wie von Geisterhand, werfen Figuren auf die Bühne.

Wer steckt hinter dieser verblüffenden Bühnenwelt?

Nachdem die Schulklassen die Orangerie verlassen haben, habe wir die Gelegenheit, mit Bühnenbildner Alfred Peter zu sprechen. Er nimmt uns mit auf die Bühne und erklärt, dass die schräg stehenden seitlichen Wände die Wirkung der sich verjüngenden Säulen der Orangerie verstärken sollen – ein typisches Stilmittel der barocken Illusionskunst. Dann krabbelt er unter die lange, weiße Tafel inmitten den Geschehens, und plötzlich reißt mit einem gewaltigen Schwung eine Tür direkt vor unserer Nase auf. Die scheinbar eigenständig agierenden Türen rechts und links sind Teil seines Konzepts. Zu Beginn der Aufführung folgen die Figuren der Oper beim Betreten der Bühne noch der Beschriftung „In“ (Eingang) und „Out“ (Ausgang) – bis diese Ordnung sich auflöst und Raum für Chaos entsteht – passend zur Handlung. Später im Werk, als die Handlung nach China gezaubert wird, verwandeln sich die Worte in chinesischen Schriftzeichen. Auch wie von Zauberhand, von hinter der Kulisse verschoben.

Am Nachmittag beginnt die Bühnenorchesterprobe mit den Schlussszenen. Diesmal dürfen die SanssouciReporter ganz allein zusehen. Auch wenn wir den Zusammenhang der Handlung zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz verstehen, beeindruckt die Szene sofort. Ausdrucksstarke, akzentreiche Musik und eine Besetzung, in der die Sänger:innen ihre Rollen bereits überzeugend verkörpern.

Die Schlussmusik wird mehrfach geprobt. Besonders eindrücklich: Gabriel Diaz muss in der Rolle des Galafro mehrfach im richtigen musikalischen Moment auf den Tisch schlagen – das steigert die Dramatik. So bleibt die Szene schon nach der ersten Begegnung im Gedächtnis.

3 Tage bis zur Premiere – Tag der Hauptprobe

Die Hauptprobe beginnt mit etwas Verspätung. Das Ensemble ist bereits anwesend, und das Cembalo probt schon das charakteristische Handyklingeln des Königs, das bei der Premiere für einige stockende Herzen im Publikum sorgen wird.
Dann betritt Dirigentin Dorothee Oberlinger den Raum. Die Oper beginnt. Nur eine Handvoll Zuschauer sind zugelassen. Einige Flaneure vor dem Orangerieschloss versuchen, einen Blick durch die Glasscheiben zu erhaschen und zu lauschen. Wir SanssouciReporter sitzen in der dritten Reihe, niemand vor uns.

Worum geht es also in „Orlando generoso“?

Schon am Tag zuvor hat Regisseurin Jean Renshaw versucht, uns und den Schulklassen die Handlung zu erklären, die in ihrer Komplexität erstmal schwer zu erfassen ist. Verfolgt man das Geschehen auf der Bühne und liest dabei die projizierten Übertitel, ist die Handlung aber gut zu verstehen.

Der Zauberer Atlante versucht die Hochzeit von Bradamante und Ruggiero zu verhindern. Prinzessin Angelica ist in Medoro verliebt, hat jedoch Angst ihrem königlichen Vater Galafro davon zu erzählen. Auch der Ritter Orlando verliebt sich auf den ersten Blick in Angelica, diese lehnt ihn jedoch ab – das macht Orlando wahnsinnig. Durch Manipulation des Zauberers und den eigenen Schmerz und Sehnsucht handeln die Figuren ohne Sinn und Verstand, was zu noch mehr Schmerz und Sehnsucht führt. Eigentlich stehen die genauen Handlungsabläufe nicht im Vordergrund, erklärt uns Jean Renshaw mit Blick in ihren Dramaturgieplan. Zentral sei das Chaos, das entstehe, wenn Figuren mit unterschiedlicher Wahrnehmung der Welt versuchen, ihren eigenen Sehnsüchten zu folgen. Dabei verletzen sie sich gegenseitig, ohne die Mächtigen als Verantwortliche für ihren Schmerz zu erkennen.

Sreten Manojlović als Atlante überzeugt mit seinen herablassenden Blicken, seinem gehässigen Lachen und spöttisch-tänzelnden Bewegungen. Im blauen Anzug filmt der Zauberer das emotionale Chaos, das er schafft, amüsiert mit seinem Handy. Shira Patchornik im beschmutzten Hochzeitskleid bringt mit nuancierter Mimik Bradamantes komplexe Gefühlswelt auf die Bühne. Morten Grove Frandsen verkörpert den gequälten Ruggiero in blutbefleckter, weißer Kleidung und schafft damit die Grundstimmung für seinen gefühlvollen Gesang. Natalia Kawalek verkörpert die Hosenrolle des Medoro überzeugend mit vollem Körpereinsatz und Charme. Hélène Walter verleiht der Prinzessin Angelica mit ihrem Gesang große Ausdruckskraft. Terry Wey als Orlando gelingen besonders beeindruckend hohe Töne – sogar, während er auf dem Rücken liegt. Gabriel Diaz verleiht dem Galafro durch aufrechte Haltung und durchdringenden Blick die Ausstrahlung eines autoritären, unnahbaren Herrschers. Die Tänzer:innen Martin Dvořák und Katharina Wiedenhofer lockern die intensiven Momente auf, indem sie die Zwischenspiele mit modernem Tanz verbinden. Martin Dvořák tritt dabei als Handlanger des Königs in die Handlung ein. Auch wenn ich diesmal die gesamte Oper sehe – für die letzten Szenen sind die Übertitel noch nicht fertig, und ich verstehe das Ende nur zum Teil.

Was hat es mit dem Finale auf sich?

Nach der Probe dürfen wir der Regisseurin und Choreografin Jean Renshaw unsere Fragen stellen. Sie erklärt uns, dass sie das ursprüngliche Ende bewusst verändert hat. Ursprünglich hätte es ein lieto fine, ein glückliches Ende gegeben – typisch für die Barockoper. Doch nach all der erlebten Gewalt und Verzweiflung schien ihr das nicht mehr glaubwürdig: „Alle waren sich einig, dass es nach allem, was passiert, kein Happy End geben kann. Auf das Ende bin ich sehr stolz.“

Nach der Probe überlegen wir, wie viel den Sänger:innen körperlich und emotional abverlangt wird. Die Figuren werden wortwörtlich durch Türen auf die Bühne geworfen, Gewalt und sogar sexuelle Gewalt werden angedeutet – oft unerwartet und drastisch. Wir fragen uns: Wie fühlen sich die Darstellerinnen dabei?

2 Tage bis zur Premiere – Ein spontanes Treffen

Die Antwort erhalten wir einen Tag später, denn auf dem Weg zum Konzert in der Friedenskirche treffen wir die Sängerinnen Hélène Walter (Angelica) und Shira Patchornik (Bradamante) zufällig beim Mittagessen – ein Vorteil der Kleinstadt. Sehr besonders an dieser Produktion sei die Zusammenarbeit bei der Inszenierung, erzählen die beiden. „Es ist nicht selbstverständlich, dass man eigene Ideen einbringen kann“, erklärt Shira Patchornik.
Dass auf der Bühne viel körperlicher Einsatz gefragt ist, bestätigt uns Hélène Walter, die die Prinzessin Angelica verkörpert. Bei Szenen sexueller Gewalt könne man sich in einem Cast, der ja nur für eine kurze Probenzeit zusammenkommt, schnell unwohl fühlen, aber mit ihren Co-Darsteller:innen fühle sie sich sehr sicher. Besonders der so viel Gewalt zeigende Tänzer Martin Dvořák sei als Bühnenpartner besonders respektvoll. Physisch herausfordernd sei die Inszenierung aber natürlich schon: Beim Abschminken würden sie täglich neue blaue Flecken entdecken, die sich nicht mit Vaseline entfernen ließen, weil sie echt seien.
Beide Sängerinnen sind sehr lebhaft und offen – es ist wirklich schön, dass sie sich die Zeit genommen haben, mit uns zu sprechen.

1 Tag bis zur Premiere – Noch ein spontanes Treffen

Nicht nur die Sängerinnen treffen wir zufällig. Dorothee Oberlinger entdecken wir auf dem Winzerberg, wo die Oboenband zum Abschluss der Fahrradkonzerte spielt. Sie trägt musikalisch die Verantwortung für Orlando generoso. Obwohl die Premiere schon morgen ist, nimmt sie sich Zeit für unsere Fragen.

Was sind die Herausforderungen an die Dirigentin einer barocken Oper?

Was ich nicht wusste: In barocken Partituren ist nicht alles Note für Note festgelegt. Dorothee Oberlinger erzählt: „In so einer barocken Partitur steht nicht: Hier spielt das Fagott und hier die Laute. Wann spielt die Harfe? Wann spielt der Kontrabass? Das sind meine Entscheidungen.“ Das dreistündige Opernmaterial bestehe aus vielen kleinen Einzelstücken, so sei es eine Herausforderung, diese unter einen dramaturgischen Bogen zu bringen.

Tag der Premiere

Am Abend vor der Premiere merke ich, dass ich unbedingt dabei sein möchte – und ergattere für 15 Euro (Junges Festspielticket) einen der letzten drei verbliebenen Plätze. Nicht nur über die Opernbühne fegt am folgenden Nachmittag ein Sturm. Die Nahverkehrsverbindungen sind teilweise lahmgelegt. Werden es alle Gäste rechtzeitig zum Orangerieschloss schaffen? Als ich die Treppen zum historischen Gebäude hinaufgehe, stolpere ich fast über die vielen herabgefallenen Äste. An diesem besonderen Ort fühlt man sich ein bisschen wie im Urlaub. Eine Zuschauerin mit Weinglas in der Hand sagt: „Wenn ich Fotos von hier an meine Freunde schicke, kann ich sagen, ich war in Italien.“ Zum Glück haben es die meisten zum Aufführungsort geschafft. Nur wenige Plätze in der ausverkauften Pflanzenhalle bleiben leer. Während sich auf der Bühne großes Drama abspielt, wird es draußen langsam dunkel. Die weiß beleuchtete Szenerie, die den Blick freigibt auf die sich verjüngenden Säulen, entfaltet ihren Bann.

Musikalisch ist die Aufführung eine Freude. Die vielschichtige Instrumentalkunst untermalt die Handlung mit himmlischen Klängen, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Alle Protagonist:innen beeindrucken – mit ihrem Gesang, der durch zahlreiche Verzierungen, emotionalen Ausdruck und eindrucksvolle Höhen berührt. Die emotionalen Arien von Angelica und Ruggiero zu Beginn des zweiten Aktes empfinde nicht nur ich als die schönste Stelle der ganzen Oper, auch das Publikum gibt einen begeisterten Zwischenapplaus.

Mit dem Ritter Orlando, der vor unerwiderter Liebe so wahnsinnig wird, dass er auf Angelica und Medoro schießt, kann ich wenig anfangen. Das wirkt wie barocke Überzeichnung. Aber vielleicht ist seine Tat gar nicht so unrealistisch – schließlich gibt es fast täglich einen Femizid in Deutschland. Insgesamt bin ich hin- und hergerissen, ob ich die ganze Geschichte nur als großes, unterhaltsames Drama verstehe, oder als kritische Auseinandersetzung mit der Realität. Zunächst empfinde ich es als unterhaltsam, wie die Figuren in Steffanis Welt ins Chaos stürzen – das schafft die Grundlage für packende Musik und intensives Schauspiel. Doch nachdem wir untereinander und auch mit zweien der Darstellerinnen über die dargestellte Gewalt gesprochen haben ­- und diese bei der Premiere tatsächlich noch eindringlicher gespielt wurde – fällt mir ihre Präsenz nun noch stärker auf. Zwischendurch frage ich mich, warum man zuschauen soll, wie der Zauberer und der König den weniger Mächtigen mit sichtlicher Genugtuung Schmerz und Gewalt zufügen. Würde Liebeskummer nicht ausreichen, um herzzerreißende Arien zu singen?

Aber vielleicht liegt genau darin die Aussage: Die Gewalt ist sinnlos, sie entsteht aus Machtgier und Unzufriedenheit oder schlichter Langeweile – im Fall des Königs und des Zauberers. Bei anderen, wie Ruggiero, entspringt sie Verzweiflung, Verwirrung und Ohnmacht. Vielleicht ist es deshalb wichtig, die in den ursprünglichen Libretti enthaltenen Texte nicht zu beschönigen – sondern sie sichtbar zu machen, um sie dann bewusst zu hinterfragen.

Auch wenn ich das Finale der Oper schon kenne, diesmal kann ich seine Bedeutung umfassender verstehen und die letzten Szenen, die mich schon am ersten Probentag beeindruckt haben, umso mehr würdigen. Der Premierenbesuch und das erneute Zusammentreffen mit der Oper haben sich gelohnt. Die mitwirkenden Künstler:innen haben mich beeindruckt, die Musik berührt und auch die Inszenierung bleibt mir im Kopf – sie regt zum Nachdenken an.

Live-Aufnahme der Premier zum Nachhören: https://www.radiodrei.de/programm/schema/sendungen/radio3_konzert/archiv/20250623_2000.html