Das letzte Konzert des Eclat-Festivals schließt an nichts an, was man in dieser Woche bisher hören konnte. Black Macabre lautet die Überschrift zu einem Simultankonzert von vier belarusischen Bands. Per Stream verbunden, spielen sie aus unterschiedlichen Städten in Europa: Stuttgart, Warschau und Kiew; nur eine Band ist in Minsk geblieben. Dort allerdings müssen die Musikerinnen und Musiker aufgrund ihrer Musik Verfolgung und Verhaftung durch das belarusische Regime fürchten. Daher spielen sie hinter Vorhängen, weder ihre Körperkonturen, noch Gesichter oder Stimmen sind erkennbar – zu ihrer eigenen Sicherheit. In diesem Konzert stehen sie im Mittelpunkt, daher auch der Name Black Macabre.
Die Organisation dieses Impro-Abends war denkbar kompliziert, vor allem wegen des Streams. Christoph Ogiermann, der als Pianist und Sänger bei dem Konzert in Stuttgart dabei ist, erzählt am Mittag vor dem Konzert im Interview: „Wir haben letzten Sonntag einmal geprobt und da war die Verbindung so schlecht, dass wir eigentlich nicht zusammengespielt haben. Über Blickkontakt geht gar nichts, weil das alles verzögert ist, es sind ja vier Streams insgesamt. Keine Ahnung, wie das heute Abend wird, aber wir treffen uns gleich nochmal und besprechen das.“ Den Nachmittag wird Oigermann außerdem dafür nutzen, Objekte zu sammeln, die ihm auffallen: Ein Ast, ein Schneckenhaus, Flatterband… Wie diese Gegenstände zum Einsatz kommen, weiß er selbst noch nicht, aber sie werden ihm helfen, die Pausen zu überbrücken, sobald die anderen Bands alleine spielen – denn Oigermann und seine Kollegen in Stuttgart werden die ganze Zeit auf der Bühne für das Publikum sichtbar sein.
Als der Stream von Black Macabre beginnt, fallen die ausladenden Kostüme der Minsker Band auf. Jeder trägt einen großen Kopfschmuck und weite Kleidung. Das verdeckt die Konturen der Musiker und sichert ihre Anonymität, es sind keine Verkleidungen, die sie aus Spaß tragen. Nach und nach baut sich über einem simplen Vier-Takt eine dunkle Stimmung auf. Wie das Ticken einer Bombe pulsiert der Rhythmus der Musik voran, unaufhaltsam und unkontrollierbar. Die polnische Sängerin Veranika Los setzt vorsichtig ein, doch nach kurzer Zeit schreit sie ihren Schmerz heraus. Diese krasse Schichtung der Klangkörper übereinander ist totale Reizüberflutung, aber so klingt Musik unter Lebensgefahr. Bei dem Gedanken wird mir übel.
Das anfängliche Chaos entwickelt sich zur Geräuschkulisse: Motorenrattern? Maschinensummen? Inmitten dieser undurchsichtigen Masse tritt eine beinahe schon naiv swingende Melodie des Saxophonisten aus Minsk hinzu. Eine makabere Heiterkeit. Es wird immer bewegter, beinahe schon tänzerisch. Wären nicht die quietschenden Störgeräusche der Kollegen, die erneut einen Schleier Dunkelheit auf die Fröhlichkeit legen. Nach etwa einer Viertelstunde habe ich vergessen, dass die Menschen improvisieren.
Nach Minsk kommen die Musiker aus Kiew zu ihrem Auftritt. Der Saxophonist „rotzt“ wie ich es noch nie gehört habe! Ist das noch ein Saxophon, wirklich keine E-Gitarre? Nein, der E-Gitarrist spielt Tongruppen, die unermüdlich auf der Stelle trippeln, nicht vorankommen, sich nicht befreien können. Der Schlagzeuger hämmert derweil auf metallene Gegenstände. Warum löst das Unbehagen in mir aus? Darüber, selbstbewusst und hartnäckig, spuckt das Saxophon seine Töne aus. Als würde es einem ins Gesicht brüllen: Ich könnte schön spielen, aber das wäre nicht angemessen!
In Stuttgart derweil legt Oigermann seine Objekte auf der Bühne aus. Sein Kollege am Saxophon wirft in höchster Lage Kommentare ein, irgendwas zwischen Schmerzensruf und Hilfeschrei. Immer weiter rücken er und seine Kollegen in den Vordergrund. „Die Buddhisten haben die Schnauze voll und werfen Steine in die Windschutzscheiben der Busse“, proklamiert der Pianist. Darauf folgt eine schnulzige Ballade – Makaber! Wohin das wohl noch führt?
Ein sanfter Ton leitet über zu den Fantastic Swimmers nach Warschau. Eine ruhige Flötenmelodie lockt uns näher. Nichts Bedrohliches hat sie an sich. Entspannung macht sich breit. PENG! Gleichzeitig hauen fünf Leute das Maximum an Tönen heraus, dass sie innerhalb weniger Sekunden produzieren können. Und nochmal. Und nochmal. Dann Stille.
Nach diesem Schock finden sie sich langsam in einer skurril anmutenden Jazz-Impro wieder. Obwohl ich den Eindruck habe, dass kein Ton zum anderen passen will, bilden sich doch Strukturen heraus: Das Klavier und der Schlagzeuger vereinen sich zu einen jazzigen Beat, die Sängerin scheint eine verzerrte Art von Hymne zu singen, Akkordeon-Cluster und Fagott-Rhythmen ranken sich rund herum. Nichts passt in dieser Welt mehr zusammen. Wie lange kann das noch gutgehen? Plötzlich verliert sich die skurrile Szene. Wasserplätschern und leises Wimmern sind zu hören, eine traurige Idylle. Was ist passiert? Wer hat es geschafft, euch zu bändigen? Die Frage bleibt unbeantwortet.
Stattdessen winken die polnischen Musiker nun in die Kameras, um die Kollegen aus den anderen Ländern zum Mitspielen einzuladen. Nach und nach entwickelt sich wieder ein scharf klingender Unterbau, auf den immer mehr Instrumente einsetzen. Smoothe Passagen werden immer wieder von Schreien unterbrochen. Man hört Stimmen, die aufgeregt klingen. Was sagen sie? Ich verstehe sie nicht. Die Intensität verstärkt sich. Aber ich kann nichts tun. Wie in Trance tanzen die Papp-Schlangen an den Kostümen in Belarus über die Bühne. In sich gekehrt schaukeln auch die anderen Musiker vor sich hin. Jeder scheint für sich zu sein. Und doch produzieren sie etwas gemeinsam. Plötzlich ist es vorbei. Aber ist es das wirklich, nur weil der letzte Ton verklungen ist? Die Musiker bedanken sich beieinander – mit verzerrten Stimmen. Die Musiker in Belarus dürfen keine Spuren hinterlassen. Vorbei ist gerade für sie gar nichts! Für uns war es ein Konzert, für sie war es eine Stunde Lebensgefahr.