Was müssen die nächsten Schritte sein?

Hannah Otto, 20 Jahre

Vor mir sitzt Sarah Maria Sun. Vor mir, auf meinem Bildschirm, sitzt Sarah Maria Sun in ihrem Hotelzimmer in Stuttgart. Die Sopranistin führt im Rahmen des diesjährigen ECLAT-Festivals Marta Gentiluccis ‚Canzoniere‘ auf, nach der Uraufführung in Paris zum zweiten Mal. Mit Texten von aktuellen Dichterinnen und Autorinnen wird die Frage nach Heimat, Wurzeln und Zugehörigkeit behandelt. Es ist nicht der persönliche Bezug der Interpret*innen, welcher diese Thematik zum Leben erweckt, sondern die große Verehrung für die Autorinnen und die Art der Musik, welche die Texte lebendig machen, sagt sie. Im ersten Teil der ‚Canzoniere‘ dissoniert die Sängerin in einem ungleichen Duett mit der Schlagzeugerin Vanessa Porter in einer sphärischen Stimmung und die Worte werden spürbar, auch durch den Bildschirm. Es folgt der zweite Teil der ‚Canzoniere‘ und die ehemaligen Kolleg*innen der Künstlerin treten auf. Die Neuen Vokalsolisten Stuttgart, welche nach den Jahren enger, intensiver Zusammenarbeit eine Art Familie für Sarah Maria Sun geworden sind. Der Prozess innerhalb der Texte wird durch einen repetitiven und eingängigen Sprechgesang real. Alle spüren den „Durst nach Musik“ in diesen Zeiten. Sie spricht damit nicht nur die Musiker*innen, sondern auch die Zuschauer*innen an. Die Verlagerung in den digitalen Raum sei ihr schon seit Beginn der Pandemie bewusst gewesen, sagt Sarah Maria Sun. “Man hört nicht auf, Musik zu machen.“

Bewusste oder unbewusste Ungereimtheiten im politischen Geschehen dieser Welt tragen Blüten in Sarahs Kunst und Musik. Sie beschreibt den Assoziationsraum, welchen diese erschaffen. Ein Assoziationsraum für Unbehagen, Wut, Trotz oder Frust. Spürbar ist dieser in einer Vielzahl ihrer Projekte. Nach ‚Killer Insticts‘, in welchem sie die Demagogie der neuen Rechten bearbeitete, folgte im Oktober letzten Jahres das Lied ‚Man with a Bible‘ in Zusammenarbeit mit Matthias Schneider-Hollek und einem Text von Jim Clayburgh. Der Text über den Mann mit der Bibel, Donald Trump und die Black Lives Matter Proteste waren „eine Message kurz vor den US-Wahlen“ im vergangen Jahr. Trotz der kritischen Auseinandersetzung mit dem ehemaligen US-Präsidenten ist das Stück nicht gegen ihn geschrieben. Sie könnte keine Kunst und keine Musik „gegen“ etwas oder jemanden erschaffen, erklärt die Künstlerin. Ihre Musik sei immer „für“ etwas. Für den Assoziationsraum. Den Raum für Unbehagen, Wut, Trotz oder Frust. Ob rational oder irrational ansprechend, es ist die Funktion des Ganzen, die für Sarah Maria Sun stimmen muss.

Der Überforderung, welche aus umfangreichem politischem Input wie diesem resultieren kann, wirkt die Künstlerin mit dem Versuch einer „Vogelperspektive“ entgegen. Damit meint sie die Aneignung tiefergehender Informationen neben denen des täglichen Nachrichtengeschehens. Der Austausch von Wissen und Kommunikation ist das wichtigste Gut unserer Gesellschaft, sagt sie, und ist Teil ihres Versuchs, nicht nur an den Oberflächen zu kratzen.

Sarah Maria Sun ist in ihren Projekten nicht nur eine politische, sondern auch eine selbstreflektierte und in ihrer eigenen Branche kritisch denkende Persönlichkeit. In ihrer Laufbahn hat sie sich um die 2500 musikalische Werke erarbeitet, auf die eine oder andere Art, erzählt sie. Davon seien etwa 100 von Komponistinnen geschrieben worden. Die Frage nach Gleichberechtigung in der Welt der klassischen Musik ist mit unter 20% Komponistinnen ein Resultat von vielen Faktoren, erzählt sie. Die Perspektive der Geschichtsschreibung und Geschlechterdarstellung definieren heute noch unsere Rollenbilder, auch in der Musik. Eine Komponistinnen-Quote für Stiftungen und Veranstalter*innen könnte den Horizont erweitern und dazu führen, dass mehr Komponistinnen Aufträge und eine Chance in dieser Welt bekämen.  Was genau brauchen diese Frauen vom Studium bis in die Berufswelt? Sarah Maria Sun will auch in ihren nächsten Projekten die Frage stellen, was in der Emanzipation von Komponistinnen die nächsten Schritte sein müssen.