Vor dem Konzertsaal, in den Zuschauerrängen, auf und hinter der Bühne stehen Gruppen von fünf bis acht Musikern verteilt. Erst abwechselnd, später immer öfter gemeinsam spielen sie etwa zehn Sekunden lange Halteklänge, die untereinander leicht dissonant sind. „Ausstellung II“ heißt das konzeptionelle Musikstück des Komponisten Adrian Nagel und es hat gleich zwei Besonderheiten. So kann sich das Publikum frei im Raum bewegen, kann nahe an die Musikerinnen und Musiker heran gehen, zwischen den Gruppen hin und her laufen oder einfach irgendwo stehend zuhören. Bei der Gruppe auf der Bühne schauen viele Zuschauer genau hin, betrachten die Noten auf den Pulten und wie die Musiker sich untereinander über ihre Einsätze verständigen. Außerdem entsteht eine besondere Nähe zu den Klängen, die man als Zuhörer körperlich und in einer wechselnden räumlichen Dimension spüren kann. Die Musikerinnen und Musiker werden so akustisch und optisch zum Ausstellungsobjekt. Die zweite Besonderheit: Laien und Profis musizieren bei diesem Stück gemeinsam, nämlich Musikerinnen und Musiker der Stadtkapelle Lahr und des Ensembles Aventure. Beim Eröffnungsabend des ECLAT Festival im Theaterhaus Stuttgart stehen genau diese Tandems aus Laien und Profimusikern im Fokus. Für viele der Laien bedeutet das eine Öffnung hin zu neuen Formen des Spielens, Singens und Experimentierens. Für das Festival und die Musikschaffenden ergibt sich die Möglichkeit, ein breiteres Publikum für das sonst eher elitäre Feld der Neuen Musik zu erreichen. Ein spannendes und lobenswertes Konzept also, das auf jeden Fall Nachahmung finden kann und hoffentlich ausgebaut wird.
Durch eine breite Palette von Stilen, Themen und Instrumenten innerhalb der einzelnen Beiträge geht das Konzept der Festivalmacher auch musikalisch und inhaltlich auf. Denn ganz anders als „Ausstellung II“ ist Sandeep Bhagwatis Komposition „Vistar“ für zwei Streichorchester. Hier sitzen die Zuhörer konzerttypisch auf den Plätzen und lauschen der Musik. Der Komponist verarbeitet in seinem Werk den Tod eines Freundes durch eine innige und berührende Musik, die mit indischen, europäischen und frei tonalen Einflüssen spielt. Mal steht ein schriller Akkord langgezogen im Raum, dann spielen wieder einige Musiker gemeinsam eine sehnsuchtsvolle Melodie mit indischen Mikrotönen, unterlegt von einer ständig vorhandenen, lebendigen Klangfläche. Für die sorgte das Junge Streichorchester Weil im Schönbuch, das ohne Noten spielt und sich an von Bhagwati festgeschriebenen Parametern orientiert. Die Mitglieder des Stuttgarter Kammerorchesters spielen dagegen ausnotierte Partien, mittig auf der Bühne im Kreis sitzend. Dabei sind sie, einem konzentrischen Kreis gleich, von den jungen Streichern umringt.
Das dritte Stück des Abends, „SINSHOME oder: Die größte Kraft“ von Tim Schomacker und Christoph Ogiermann, liefert in vielerlei Hinsicht einen Gegenpol. Das multimediale Oratorium hat die Dystopie der gewollten Vereinzelung des Individuums im digitalen Raum zum Thema und positioniert sich damit im gesellschaftspolitischen Diskurs, wie es von Festivalleiterin Christine Fischer in ihrer Eröffnungsrede gefordert wurde. Eine hauptsächlich rezitierende Rolle hat bei dem Oratorium das Vokalensemble Sinsheim, das vom Ensemble KLANK und dem Countertenor Berkan Zerafet unterstützt wird. Videos auf zwei Leinwänden, Musik akustischer und elektronischer Instrumente, vorproduzierte Sounds und jede Menge perkussiver Elemente, Gesang und rhythmisch vorgetragener Texte mischen sich zu einem beeindruckenden audiovisuellen Szenario. Das ist jedoch fast zu überwältigend und nimmt der plakativ dargestellten gesellschaftskritischen Botschaft ihre Kraft.
Was bleibt von diesem Eröffnungsabend? Auch wenn nicht alles perfekt war, etwa manche Einsätze nicht ganz synchron waren, war die Musik beeindruckend. Das Konzept, Laien und Profis zusammen zu bringen, kann noch weiter ausgebaut werden und die Laien mit mehr als Klangflächen, Haltenoten und rezitierten Texten in die Musik eingebunden werden. Das Beeindruckendste war jedoch die Themenvielfalt. Die Musik lieferte jede Menge Impulse für den Umgang mit den Problemen der heutigen Zeit. Sie stellte gesellschaftliches Verhalten dar ließ die Zuhörer darüber reflektierten, sie schuf Räume für Ausstellungen und Dystopien und vielfältige Emotionen.