Ewige Wiederkehr

Julia Kaiser, 99 Jahre

kmfSylt endet mit Lebensmut

Zum Finale hochemotionaler fünf Tage hat das Kammermusikfest Sylt am Ostermontag die Insel noch einmal mit musikalischer Pracht überströmt. In zehn Konzerten haben die beiden Leiter Claude Frochaux und Malte Ruths religiöse und weltliche Blickwinkel auf ihr Festivalthema Ewigkeit eingenommen und dabei die zugleich erschreckende und überaus tröstliche Erkenntnis gewonnen: Alles verändert sich und nichts bleibt, wie es war.

Aufblühen in Keitum

Mit beiden Beinen in der Ewigkeit stehen, sich rückwärts hineinfallen lassen! Bergwiesen im Frühling habe er beim Komponieren vor Augen gehabt, sagt Thomas Adès schlicht, aber mit einem hellwachen Leuchten in den Augen, ehe er mit seiner Mazurka No.2 für Solopiano die Festivalgala im Friesensaal eröffnet. Flinke Töne in irregulärem Rhythmus hat er mit der scheinbar zufälligen Ordnung gesetzt, in der Insekten emsig zwischen Blumen hin und her sausen, ohne je zusammenzustoßen. Das kurze Stück ist wie eine Erfrischung von Körper und Geist, Adès‘ Tastenanschläge tippeln und prickeln auf Haut und Hirnrinde.

Düster wirkt Gustav Mahlers folgendes Klavierquartett, sein einziges erhaltenes kammermusikalisches Werk, aber es lotet die ewige Dunkelheit aus, lässt die Schwärze durch die Finger gleiten wie etwas, das doch auch zu uns gehört. Aus der Besetzung hebt sich Floor Le Coultre hervor, diesmal an der Bratsche, mit konturloser Dunkelheit, die aber überwältigend selbstverständlich wirkt, wie ein körperloses Fundament, mit dem die uns umgebende Ewigkeit gesichert ist.

Erdig und vor Frühlingskraft strotzend ist Thomas Adès‘ ungarischer Liedzyklus „Növények“, im Sinne personifizierter Pflanzen. Die Mezzosopranistin Doròttya Láng ist dem Festivalpublikum längst mit ihrer Vielseitigkeit ans Herz gewachsen. Für den allen unbekannten Reigen von drei surrealistischen Liedern in ihrer Heimatsprache erntet sie einen wahren Begeisterungssturm. Sie verwandelt sich in eine vor Leben strotzende Wurzel, in einen mystischen Beerenstrauch und in eine durch den Wald schwebende Seele, die in allen Pflanzen lebt. Die geniale Orchestrierung für drei Bläser, vier Streicher und Klavier hegt die Stimme vor allem geräuschhaft ein, so wie in der Erde oder im Dickicht des Waldes manche Klänge ersticken. Atemlos lauscht das Publikum der Sängerin, wie ihre Stimme dorthin schwebt, wohin ihr niemand mehr folgen kann.

Nicht von dieser Welt

Ludwig van Beethovens Septett ist nicht selten krönender Abschluss von Kammermusikfestivals, weil in dem herausfordernden Werk noch einmal alle zeigen, was sie können, sich noch einmal bejubeln und dann den Ort des Geschehens schnell hinter sich lassen. Beim KmfSylt ist es ganz anders. Auch hier kulminiert das Programm und man spürt, wie sehr sich alle besonders auf dieses Werk gefreut haben. Aber es ist ein kraftvolles Loslösen von jeder Erdenschwere, das hier zu erleben ist. Das Attribut „absolut“ erfasst nähreungsweise, was geschieht, wenn die entfesselte Musikalität aller Beteiligten jeden einzelnen Ton, den Beethoven geschrieben hat, verwandelt. In einen Edelstein vielleicht – wenn das nicht zu statisch wäre. Perfektion trifft es auch nicht, was hier zu hören ist, denn es geht ja um die organische Reibung von Klängen, die dann wiederum eine übermächtige Energie freisetzt, die Musiker und Publikum gemeinsam erfasst. Hier wird nicht weniger fühlbar als die unendliche Kraft, die in Kammermusik steckt! Die Erfahrung, das Talent und die Gabe jedes einzelnen auf der Bühne fügen sich zusammen zu etwas Uraltem und gleichzeitig genau hier und jetzt neu Entstehendem. Jeder Phrasenschluss erhält den edlen Schimmer, den besonders die Geigerin Priya Mitchell und der Klarinettist Matt Hunt zu verstäuben vermögen. Alle merken, wie hier Satz für Satz die Ewigkeit vor unseren Augen Gestalt annimmt. Die Applaudierenden können sich kaum bis zum Schluss zurückhalten und der Jubel will nicht enden. Hier, nicht in der Carnegy Hall oder der Elbphilharmonie sondern hier, im Friesensaal von Keitum, dürfen alle gemeinsam Teil haben an etwas, das uns für lange Zeit zu Fühlenden, zu Verantwortungsbegabten – zu Menschen macht.