Gefühle steuern

Laura Druselmann, 21 Jahre

ein Beitrag vom Joseph Joachim Violinwettbewerb 2024

Geigenklänge schweben durch den Richard Jakoby Saal der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Als ich der Livemusik lausche, bemerke ich schnell, wie sich etwas in mir regt. Die Abfolge der Töne, unterschiedliche Tempi, verschiedene Lautstärken – all das macht etwas mit mir. Ich habe das Gefühl, von der Melodie durch eine Geschichte geführt zu werden, getragen von facettenreichen Emotionen. Mein Blick ist auf eine Teilnehmerin des Joseph Joachim Violinwettbewerbs gerichtet, wie sie, mal sanft und mal energischer, den Bogen über die Saiten ihrer Geige gleiten lässt. Hyein Koo scheint Eins zu sein mit ihrer Geige, mit ihrem Instrument zu verschmelzen, ebenso wie mit den Tönen, die sie erklingen lässt. Die Künstlerin lehnt sich in sie hinein, schwebt von einem Klang zum nächsten. Fühlt die Koreanerin dasselbe wie ich? Steuert sie, was ich fühle, wenn sie Noten in Töne übersetzt? Oder wird gar sie selbst durch die Klänge gesteuert?

Dass Musik, ganz gleich welchen Genres, Emotionen hervorrufen oder verstärken kann, ist keine Neuigkeit. Zuhörerinnen und Zuhörer bekommen eine Gänsehaut, wenn ein Stück sie besonders berührt, oder geben sich einem Bewegungsdrang hin, wenn es besonders lebendig ist. Doch was verspürt der Künstler oder die Künstlerin? Wie schafft er oder sie es, mithilfe eines Instruments Gefühle beim Publikum auszulösen – scheinbar voller Leichtigkeit!

„Die Sprache der Musik ist wie eine Fremdsprache“, erklärt Imke Splitter in einer Wettbewerbspause. Die studierte Geigerin verfolgt den Violinwettbewerb aus dem Publikum. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Lukas Splitter, Orchestergeiger, hält sie fest, dass man Musiksprache nur zu einem gewissen Grad erlernen könne, aber sich in sie einleben und -fühlen müsse, um sie sprechen zu können wie ein Muttersprachler. Dies sei „ein Talent, das nicht alle gleichermaßen mitbringen“.

Am Abend hat Hyein Koo Zeit für ein Interview. Die junge Musikerin beschreibt mit einem Strahlen im Gesicht, was sie auf der Bühne empfindet und wie sie das mit ihrem Publikum teilen möchte: „Ich sammle meine Emotionen in Form von Erinnerungen an Erlebnisse mit meiner Familie, an Theaterstücke oder Filme. Und wenn ich auf der Bühne stehe, kommen sie zum Vorschein.“ Indem sie sich regelmäßig selbst filmt und ihr Auftreten genau analysiert, möchte sie ihre Wirkung nach außen verstärken. „Ich wünsche mir, dass das Publikum genau das gleiche empfindet wie ich“, betont die Koreanerin. Je nach Stück und Spielart kommen unterschiedliche Emotionen in ihr hoch. So vergleicht sie eine Bachsonate mit einem ruhigen Gebet in der Kirche, während das zweite Werk, das sie gespielt hat, „Honza Nori“, als klassisches koreanisches Stück düstere Gedanken an den Tod und die Vergänglichkeit in ihr hervorrufe. Der Titel kann als „Alleine spielen“ übersetzt werden und drückt aus, wieso Hyein Koo das Stück gewählt hat. „Honza Nori“ bildet für sie einen starken Kontrast zu der Sonate von Bach, da es im Vergleich zu westlicher Musik mehr Freiheiten biete und ihr die Möglichkeit gebe, ganz bei sich zu sein und loszulassen. „Bach bedeutet Kontrolle und ‚Honza Nori‘ bedeutet Kontrollverlust“, sagt die junge Geigerin und lächelt.

Schon kurze Zeit später wird Hyein Koo ebenso wie die anderen Teilnehmenden die Balance zwischen Kontrolle und Kontrollverlust im Zusammenspiel mit einem Pianisten erproben. Wie verändert das ihren Ausdruck von Emotionen? Kann man in den Semifinals beim Spiel im Streichquartett oder mit einem Kammerorchester noch eine Steigerung erwarten? Und wie verhält sich das Gleichgewicht womöglich im Finale, mit der NDR Radiophilharmonie?