Es ist der dritte Tag der zweiten Vorrunde des Joseph Joachim Violinwettbewerbs 2021. Und es ist mein erster Tag als Teilnehmerin beim JungeReporter-Workshop. Unser Job in den kommenden vier Tagen ist es, den Wettbewerb journalistisch zu begleiten und über die Klassikmusik zu schreiben. Das ist eine ziemlich spannende Aufgabe. Vor allem für jemanden, der von Klassik wirklich gar keine Ahnung hat und dessen einziger Berührungspunkt mit Geigenmusik Lindsey Stirling im Jahr 2012 war. Jetzt betrete ich mit diesem unterirdischen Vorwissen das Foyer der Musikhochschule und bin sehr froh, dass ich mich heute morgen gegen das Iron Maiden-T-Shirt entschieden habe.
Nun ist der Moment gekommen, in dem ich für meine ersten Violinkonzerte den Saal betrete. Das Licht ist gedimmt, die Betonwände werden in warme Farben getaucht. Nur auf der Bühne scheint blaues Licht in Streifen an den Vorhang. Ebenfalls angeleuchtet wird die weiße Büste Joseph Joachims am rechten Bühnenrand. Ich bin gespannt, was jetzt auf mich zukommt. Wird es mir gefallen oder wird es mich langweilen? Als die erste Künstlerin zusammen mit der begleitenden Pianistin die Bühne betritt, wird es ruhig und das Publikum applaudiert. Das erste Konzert performt Mathilde Milwidsky. Aus meiner Sicht beginnt sie ihr Konzert sehr leicht. Ich kenne niemanden persönlich, der Geige spielt, deshalb ist es für mich umso faszinierender, die Finger der Geigerin über die Bünde tanzen zu sehen. Mittlerweile nimmt das Stück an Fahrt auf und das wilde Wechselspiel zwischen Violinistin und der Klavierbegleiterin zieht mich mitten in die klassische Klangwelt. Als die Geigerin den Bogen absetzt, wundere ich mich, warum niemand applaudiert. War es nicht gut? Macht man sowas in der Klassik nicht? Nickt man nur kurz und wohlwollend als Anerkennung? Erst später erklärt sich mir, warum gerade nicht applaudiert wurde: Die zwei Sätze stammen aus einem Werk und man applaudiert nur zwischen zwei separaten Werken. Das muss man auch erstmal wissen. Nun leitet Milwidsky zum zweiten Teil des ersten Stückes ein. Auf mich wirkt die Musik nun frech und leichtfüßig. Als ob ich dem Piano und der Violine gerade dabei zuschaue, wie sie sich verlieben. Danach meine ich einen Bienenschwarm rauszuhören und bekomme Gänsehaut bei der Schnelligkeit, welche die Violinistin und Pianistin in ihre Instrumente legen. Als die beiden Musikerinnen erneut zu spielen aufhören und den Klang nachhallen lassen, folgt darauf Applaus aus dem Publikum. Etwas verwirrt aber froh, steige ich mit ein. Im zweiten und letzten Stück packt die Violinistin nochmal ihr ganzes Können aus, während sich das Scheinwerferlicht in ihrer Geige spiegelt. Nach dem großen Abschluss folgen Applaus, zwei Verbeugungen und meine Freude darüber, mich für diesen Workshop beworben zu haben.
Als die nächste Musikerin, Yurina Arai, anfängt zu spielen, bin ich verblüfft von dem Timing des Klaviers und der Violine. Sie fangen exakt im selben Moment an, ohne einen Hauch von Runterzählen und Taktvorgabe. Ich frage mich wirklich, welches System dahintersteckt. Etwas später erfahre ich von dem Pianisten Boris Kusnezow, dass die Vorgabe im Einatmen der Geigerin liegt. Das hätte ich wohl nie erraten. Diesmal erinnert mich das Spiel an einen wechselhaften Frühlingsmorgen. Den älteren Mann drei Reihen hinter mir scheinbar auch, denn mit geschlossenen Augen ruht sein Kopf auf seiner Brust. Mit dem Blick wieder auf der Bühne verfolge ich das Frage-Antwortspiel der beiden Instrumente. Im spiegelnden Deckel des geöffneten Flügels schimmern golden die Tastenschläge des Instrumentalisten. Während sich Arai mit ihren Bewegungen in die Musik einfühlt, höre ich drei Reihen hinter mir ein Programmheft auf den Boden rutschen. Jemand ist wieder aus dem Schlafreich zu uns gekommen und schaut nun nach dem Heft, welches ihn aufgeweckt hat. Ich lächle in mich hinein, denn bisher dachte ich, dass es solche Szenen nur im Film gäbe. Auf der Bühne bleibt dies aber alles unbemerkt, denn es wird nochmal richtig mutig und kraftvoll im Scheinwerferlicht. Als die letzten sehr feinen hohen Töne das Ende einläuten, verlassen sie mich etwas wehmütig in meinem Sitz. Nach einer bedächtigen Stille folgt ein längerer Applaus.
Nun folgt das dritte Konzert des Tages, mit der Violinistin Anna Lee. Diesmal ist aber etwas anders. Eine dritte Person kommt auf die Bühne und setzt sich neben den Pianisten. Ich frage mich, welche für mich noch geheime Aufgabe sie wohl hat. Anna Lee beginnt mit geschlossenen Augen ihr Stück zu spielen. Ihre Mimik drückt dabei ihr Musikgefühl aus. Auch hier erinnert mich die Sonate von Beethoven an einen frühsommerlichen Tag. Allerdings rollt ein Gewitter heran und ich sehe vor meinem inneren Auge, wie sich Tiere in ihrem Bau verstecken. Gleichzeitig sehe ich mit meinen äußeren Augen, welche Funktion die geheimnisvolle Frau auf der Bühne hat. Sie blättert dem Pianisten die Notenseiten weiter. Secret solved. Das Gewitter des Stückes verzieht sich nun wieder und es macht sich musikalisch reges Treiben breit. Die Musik wird wieder mutiger und lauter. In all der Bewegung und dem Körpereinsatz der Geigerin fällt ihr eine Haarsträhne direkt in die Augen. Jeder, dem so etwas schon mal passiert ist weiß, dass es ein ziemlich unangenehmes Gefühl ist. Aber mit viel Disziplin und wahrscheinlich wahnsinnig viel Konzentration auf die Musik hält Lee bis ans Ende der Sonate durch. Und erhält meinen tiefsten Respekt dafür. Als der Saal in Schweigen gehüllt die letzten Töne auf sich wirken lässt, hört man aus einer der vorderen Reihen ein lautes „Düdüdüdübdüb“. Jemand hat eine SMS bekommen. Ich suche nach einer verratenden Bewegung des Besitzers, aber niemand rührt sich. Das Schlaueste, was man in dieser Situation wohl machen kann. Vielleicht aber auch das Feigste. Das ist aber Ansichtssache. Die Geigerin jedenfalls lächelt über die Situation hinweg und erntet Applaus. Anna Lee scheint insgesamt ein sehr fröhlicher Mensch zu sein, und das spiegelt sich auch in ihrer Spielweise wider. Dass aber auch sie Trauer und Sehnsucht kennt, zeigt sie in ihrer nächsten Darbietung. Dieses Musikstück erinnert mich an die Weite des Meeres und die frühere Schifffahrt. Ich sehe steile Küsten in rauen Wellen vor mir. Aus diesem Bild heraus werde ich von den Musikern in eine Verfolgungsjagd geschickt, beherrscht vom Chaos. Im letzten aufstrebenden Schwung des Bogens schaut Anna Lee mit offenen Augen voller Glück nach oben. Sie scheint sehr zufrieden mit ihrem Auftritt.
Die ersten drei Konzerte habe ich wirklich am intensivsten wahrgenommen, da es die ersten drei Klassikkonzerte in meinem Leben waren. Das ist keine Abwertung der nachfolgenden Konzerte, da wirklich jede einzelne Geigerin und jeder einzelne Geiger ein wahnsinniges Talent und sehr besondere Momente in ihren Konzerten hatten. Da ist zum Beispiel Hawijch Elders. Ihr ist mitten im Konzert ein Haar im Bogen gerissen, welches dann wahrscheinlich während des Spielens wahnsinnig gestört haben muss. Sie hat es in einer kurzen Spielpause so schnell entfernt, ohne ihren Einsatz zu verpassen, dass ich über das super Timing sehr beeindruckt war. Enrique Rodrigues‘ spielerischer und charakterlicher Charme bleibt sehr positiv in meinen Erinnerungen hängen. Er war seinem Pianisten aber auch seinem Publikum unglaublich zugewandt, wie ich bei keinem anderen Geiger das Gefühl hatte. Mit einer beneidenswerten Eleganz ist Chiara Sannicandro in ihre Musik abgetaucht und hat gerade den leisen Tönen sehr viel Schönheit eingehaucht. Und das, obwohl sie mitten in einem gefühlvollen Stück einen lauten Nieser aus dem Publikum als Extra-Ton reinbekommen hat. Und als letztes noch Zhixin Zhang, welcher seinen Auftritt am Vorabend leider abbrechen musste und von der Jury eine neue Chance bekommen hat. Er hat seine Eigenwilligkeit in sein Konzert mit reingebracht und war der Einzige, der einen Teil ohne Pianisten gespielt hat. Bei vielen kam das nicht gut an, aber ich bewundere ihn dafür, bei so einer Wettbewerbssituation nicht auf Nummer sicher zu gehen, sondern das zu machen, was man selbst als das Beste empfindet. Und sich dabei selber treu zu bleiben.
Grundlegend beeindruckt verlasse ich nach dem letzten Konzert den Saal. Nun zieht sich die Jury zu ihrem undankbaren Job zurück und berät sich zu den Teilnehmern für die Semifinalrunde 1. Nachdem wir nach der Pause noch einmal 30 Minuten länger auf die Folter gespannt wurden, nehmen wir ein letztes Mal an diesem Abend auf den rot-weißen Saalstühlen Platz. Das Tempo der Urteilsverkündung gleicht dem einer Pflasterentfernung. Acht Namen. Acht freudige Gesichter. Aber nur eins von diesem Samstagabend. Chiara Sannicandro ist als Einzige eine Runde weitergekommen. Und zwar verdient. Um die anderen tut es mir trotzdem leid, da jeder auf seine Weise so eine tolle Leistung gezeigt hat. Es hilft vielleicht nicht über die Traurigkeit an diesem Abend hinweg, aber ich würde gern jeder Geigerin und jedem Geiger an diesem Abend sagen: Ihr habt alle einen Klassikneuling verzaubert und gezeigt, wie vielseitig und voller Charakter diese Musikgenre doch sein kann. Ich danke euch dafür!