Lauter spannende Irreführungen

Masami Akiko, 35 Jahre

„Philoktet“ von Samir Ideh-Tamimi ist ein Musiktheaterstück, das immer wieder mit Unerwartetem überrascht. Man erwartet, dass der Protagonist mit seiner schönen hohen Stimme singt. Doch Philoktet macht zunächst nur dumpfe Geräusche, die uns verwirren, und er spricht dann nur noch. Das soll natürlich seinen Schmerz und seine Verzweiflung ausdrücken. Der Countertenor singt zum ersten Mal, nachdem er Neoptolemos den Bogen des Herkules gegeben hat. Seine Gesangsstimme unterscheidet sich so sehr von seinen Grunzlauten und seiner tiefen Sprechstimme, dass meine Ohren unwillkürlich daran kleben bleiben, denn sie ist hoch und schön schwebend. In diesem Stück wird grundsätzlich keine Opernstimme verwendet – vielleicht am ehesten vom Bass, gegen Ende.

Auch die Instrumentalisten des Zafraan-Ensemble zeigen ein unglaubliches Verhalten: Am Anfang hört man nur Insektengeräusche und ein wenig Schlagzeug. Kurz darauf nimmt eine Geigerin ihren Bogen und beginnt zu spielen. Aber egal, wie lange ich warte, ich kann nichts von der Geigerin hören. Da ich per Livestream beteiligt bin, denke ich: „Vielleicht ist das Mikrofon zu weit weg?“ Zu meiner Überraschung tut die Geigerin nur so, als würde sie ihren Bogen auf die Saiten legen!

Eine weitere eindrucksvolle Szene: Als die Harfe ein reiches Arpeggio spielt, explodiert Philoktet beim Anblick von Odysseus vor Wut und Traurigkeit. Nachdem die Instrumentalist*innen diese Szene musikalisch inszeniert haben, kommen sie ohne Instrumente in die Mitte der Bühne, machen zitternde Gesten. Und siehe da, einige der Spieler*innen ziehen ihr Kostüm aus und wieder an. Wieder und wieder! Vermutlich stellen sie eine Paranoia dar? Und neben ihnen zerreißen andere so etwas wie ein Drehbuch. Jeder macht etwas anderes, wodurch eine chaotische Situation wie in einem absurden Theaterstück entsteht. Dies dient dazu, diesem Tableau vivant eine philosophische und psychologische Bedeutungen zu verleihen.

Was die musikalischen Aspekte betrifft, so möchte ich zunächst die wunderbare Darbietung des Protagonisten Daniel Gloger loben. Er setzt eine große Vielfalt an Gesangstechniken und Ausdrucksmöglichkeiten ein und gestaltet die Eigenschaften des Philoktet lebendig. Neoptolemus (Tenor, Martin Nagy) und Odysseus (Bass, Andreas Fischer) singen gemeinsam am Anfang und am Ende des Stückes, wobei das Duett am Anfang besonders interessant ist. Sie singen unisono und leicht verstimmt. Durch diese Abweichung entstehen einzigartige Klangveränderungen, die an die rhythmischen Muster der arabischen Musik erinnern. Diese Kompositionstechnik findet sich im Chor wieder. Der griechische Chor spielt eine besondere Rolle: Wie in der antiken griechischen Tragödie singt er mit den Solisten, lässt die Handlung sich entfalten und lenkt die Szene mit seiner charakteristischen Gestik. Eine weitere Neuerung ist der Mittelteil des Werkes, in dem der Chor kontinuierlich denselben Ton singt, von dem aus er wellenförmig auf- und absteigt. Dies ist eine der spannendsten Stellen, da sie wie ein religiöser Gesang oder ein Zauberspruch wirkt.

Das Libretto wurde in Griechisch, Französisch und Deutsch verfasst und wird über der Bühne mit Untertiteln versehen, die im Livestream nicht immer sichtbar sind. Mimik und detaillierte Gestik der Darsteller sind jedoch deutlich zu erkennen. Anstelle von Papierpartituren und Notenständern sind kleine Tablets für die Sänger*innen auf der Bühne aufgestellt, so dass sie die Sicht des Publikums nicht behindern. Außerdem sind realistische Insektenstimmen zu hören, sogar über das Internet. Das hat mich dazu gebracht, über die Auswirkungen und den Beitrag der technologischen Innovation in der Kunst nachzudenken.