Lebensraum

Berta Weidental, 31 Jahre

Eine Gratwanderung zwischen Natur und Traumwelt, Isolation und Zusammenarbeit, Anfang und Ende präsentiert uns „Performing Precarity I“. Die vier aufeinander folgenden Stücke „animalia II“ von Simon Löffler, „CADENZA aus LASTER“ von Lisa Streich, „2-Meter-Harmony: Uncertain Chorales“ von Laurence Crane und „UTFLUKT“ von Carola Bauckholt sind Ausdruck des künstlerischen Schaffensprozesses und stellen dabei die Schwierigkeiten und Herausforderungen des Künstlerseins in den Vordergrund. Dabei bewegen sich die Werke in unterschiedlichen Stimmungen, Klangwelten und Sphären und geben uns Einblicke in prekäre Bühnensituationen.

Blaues Licht geht an und zeigt uns zwei Feenwesen, wie sie auf den Boden knien, den Kopf eingezogen und die Stirn am Boden. Der vorgebeugte, freie Rücken ist dem Publikum zugewandt und ihre Libellenflügel wirken wie mit den Performerinnen Jennifer Torrence und Ellen Ugelvik verschmolzen. Vier Minuten lang bewegen sie rhythmisch und synchron die Flügel, kratzen über den Boden und schlagen damit nacheinander oder gleichzeitig durch die Luft. Dabei wandeln sich die filigranen Bewegungen immer mehr zu einem hektisch werdenden Scharren und Wuschen. Die beiden Performerinnen Jennifer Torrence und Ellen Ugelvik imitieren zunehmend das Flügelschlagen von Insekten. Scheller Atem wird durch langsam hinzukommende Zirpgeräusche abgelöst. Langsam findet ein Transformationsprozess vom Feenwesen zur Libelle, von Fantasie zur Natur statt. Ein wunderbar poetisches Schauspiel. Faszination, Resignation und Mystik erfüllen den Zuschauerraum.

Die Stimmung des Werks von Lisa Streich ist anders. Jennifer Torrence und Ellen Ugelvik stehen zusammen am Klavier, in enger Zusammenarbeit lassen sie Klavier- und Synthesizerklänge ertönen. Klimpern vermischt sich mit dem Geräusch eines immer wieder aufgezogenen Spielzeugautos. Das Zusammenspiel erinnert an eine Spieluhr, die immer wieder neu aufgezogen wird. Das angeleuchtete gelbe Fähnchen, das während des gesamten Stückes im Klavier dreht, hypnotisiert das Publikum und nimmt es mit in ein Drehkarussell aus lauter Neubeginnen. Ein wunderschönes Stück, das bedrückt, aber auch fasziniert.

Zu den beiden Performerinnen gesellt sich ein dritter, Anders Forisdal. Die Stimmung wird bedrohlicher und es geht ins Unbekannte. Langsam breitet sich der schwellende, pulsierende Soundhintergrund aus und zieht wie ein ins Wasser geworfener Stein immer weitere Wellen, welche die drei Performenden auseinander tragen. Langatmig und gleichmäßig pusten sie in ihre Mundharmonikas und ziehen langsam die Luft wieder ein. Es scheint fast, als würden sie einander auf verschiedenen Ebenen suchen und rufen, wie mit einem Echolotsystem. Man verfolgt die Rufe voll hoffungsvoller Melancholie. Eine Suche nach Kontakt, die einen emotional packt und mitfühlen lässt.

In der Komposition von Carola Bauckholt nehmen uns Jennifer Torrence und Ellen Ugelvik mit auf eine Musikerlebnisreise und zeigen uns, begleitet von Elizabeth Hobbs‘ zauberhaftem Animationsfilm, wie Sie sich selber zwischen ihrem natürlichen und künstlerischen Lebensraum wahrnehmen. Die Performerinnen bewegen sich dabei in einer sich ständig wandelnden, Zeichentrick-Atmosphäre voller verschiedener Klänge, immer an der Schnittstelle zwischen Tag und Nacht, Land und Wasser, Musik und Wissenschaft, Natur und Fiktion. Man erlebt mit, wie die Künstlerinnen Natur wahrnehmen, welche Klangwelten und Geräuschkulissen sie entdecken und welche Klänge sie im Alltag selber erzeugen. Dabei werden Instrumente zu Projektionsflächen und Alltagswerkzeuge zu Instrumenten. Begeistert verfolgen die Zuschauerinnen und Zuschauer das Geschehen. Langsam rudern die Darstellerinnen auf dem Klavier durch das Wasser. Eine Trommel wird geangelt und verwandelt sich in einen Mond. Plötzlich ist es Nacht. Insekten und Tiergeräusche werden immer klarer vernehmbar und legen sich über das Geplätscher von Wasser. Der Alltag wird zu Musik. Und das Klavier wird zum natürlichen Objekt der Forschung. Die Performerinnen interagieren mit der Leinwand und die Videokunst auf der Leinwand mit den Performerinnen. Eine Silhouette winkt uns aus der Trommel heraus zu und lässt das Publikum beglückt vor Begeisterung zurück. Wo ist das Ende zwischen lauter Neuanfängen, wo der Empfänger oder das Publikum für die ausgesendeten Klangwellen?  Und wo ist die Grenze zwischen Performance und Leben, Fantasie und Realität? Ein Konzert wie ein bunter Blumenstrauß.