„Manchmal schreibe ich den Leuten auf den Kopf“

Sophie-Caroline Danner, 23 Jahre

Bei der Nachbesprechung des Opernabends „BORIS“ an der Staatsoper Stuttgart bezieht der Komponist Sergej Newski Stellung zu Modest Mussorgskis Oper: „Boris ist für sich perfekt. Boris braucht keine Ergänzung. Meine Oper kommt da etwas ungebeten daher“. Mussorgskis Stück „Boris Godunow“ wird an dem Abend in Kombination mit Newskis Neukomposition „Secondhand-Zeit“ gespielt. Der Dramaturg Miron Hakenbeck führt das Gespräch von Sergej Newski, Titus Engel (musikalische Leitung), und den beiden Sängerinnen Maria Theresia Ullrich und Stine Marie Fischer, mit dem Publikum. „Wie geht es Ihnen mit dem Stück?“ Schweigen im zweiten Foyer. Ich habe das Gefühl, alle denken das Gleiche, aber keiner will es zugeben. Also hebe ich meine Hand und sag es einfach: „Ich war überfordert. Zumindest bis zur Pause. Dann wurde es ein bisschen besser“. Ich habe das Gefühl, dass mein Eindruck geteilt wird, dass ich nicht als zu junge Frau, die nichts von Oper versteht, abgestempelt werde. Die Reaktion auf den Sofas vorne beinhaltet ein leichtes Schmunzeln und vor allem Verständnis. Titus Engel, der die Aufführung auch dirigiert hat, antwortet, dass er das sehr gut nachvollziehen könne, und dass es ihm erstmal auch so ging. Miron Hakenbeck fügt hinzu: „Das ist ein Stück, da müssen sie mehrmals kommen um es zu verstehen“. Den Eindruck habe ich allerdings auch. In seiner (Über)Fülle an Eindrücken ist ein Abend da wirklich nicht genug. Während „Boris Godunow“ eben nur die eine Geschichte eines Mannes erzählt, stecken in „Secondhand-Zeit“ sechs Schicksale in der ungefähr gleichen Zeit. Diese werden oft auch gleichzeitig gesungen oder gesprochen, was für mich zu einer Überforderung wird, weil ich doch so gerne alle Geschichten hören würde. (Die Zusatzebene in Form von Videoproduktionen macht das Ganze nur noch schlimmer.)

„Oh Gott, wie lern ich das auswendig“, war die erste Reaktion von Maria Theresia Ullrich auf ihre Partie. Sie sei überrascht gewesen, „wie schnell die Musik Fleisch wurde“. Bei aller Komplexität sei trotzdem ein sinnliches Erlebnis daraus entstanden. Auch diese Aussage kann ich unterschreiben, zwischenzeitlich war mir körperlich schlecht. Das hatte mehrere Gründe: Große stimmliche Wucht oder gar Gewalt von Chor, Orchester und Solisten. Künstlicher Nebel, der in der zweiten Reihe das Atmen erschwert. Und allem voran die überzeugende Darstellung der komplexen und traumatisierten Charaktere. Ich erspare hier brutale Details, die in bildlicher Sprache mit irrem oder starrem Blick vorgetragen wurden. Als ich dieses Gefühl beim Nachgespräch äußere, sind die Sofasitzer wieder wenig überrascht. Wenn doch überrascht, dann nur über die tatsächliche Wirkung und meine Direktheit. Sergej Newski lacht kurz etwas unbeholfen, entschuldigt sich bei mir (was absolut nicht mein Ziel war, aber trotzdem nett ist) und meint: „Ich schreibe manchmal dem Hörer auf den Kopf“.

Langsam taut das Publikum auf und es kommt doch ein Gespräch in Gang. Eine Frage, die sich vielen aufdrängt: „Wie und warum haben Sie diese sechs Geschichten ausgewählt?“ Die literarische Vorlage von Swetlana Alexijewitsch biete hunderte Geschichten. Wie filtert man da? Newski beschreibt, wie er von drei Haupteinflüssen geleitet worden sei. Grundlegend wichtig sei erstmal gewesen, dass die Geschichten zu Mussorgskis Nebenrollen passen. Da gab es jedoch mehr als eine Möglichkeit. Dann wählte er die Geschichten, die ihn ansprachen. Dieses Kriterium geht einher mit dem dritten, der Historie seiner Familie. Er erzählt von der Schwester seiner Großmutter, die eine Affäre mit einem SS Mann hatte, um ihr Kind zu retten. Es hätte viele dieser Konstellationen gegeben, deren verwirrende Grausamkeit und absurde Realität gezeigt werden soll. Das gelingt. Ich bin verstört. In der Aufführung und noch lange Zeit danach. Irgendwie erschlagen von der Menge an akustischen, optischen und körperlichen Eindrücken, die ich jetzt sortieren, einordnen und verarbeiten muss.

Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich mich dem Horror dieser Oper ein weiteres Mal stellen werde. Ich hoffe, dass die erste Hälfte dann mehr Sinn ergibt. Ein so intensiv körperliches Erlebnis mit Musik hatte ich nie zuvor, und auch wenn es in gewisser Weise furchtbar und grausam war, ist dieser Opernabend eine große Bereicherung. Vielleicht gerade durch das Erleben der Überforderung, die ich in meinem gut organisierten Leben außerhalb der Oper als unangenehmen Kontrollverlust empfinden würde, hier aber auf paradoxe Weise genießen kann.