Nicht vergessen

Rosa Schnidrig, 22 Jahre

„Ein Wettbewerb ist von Natur aus etwas Schreckliches.“ Die Künstlerischen Leiter des JJV Hannover, Antje Weithaas und Oliver Wille, nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Schattenseiten eine Competition geht. Denn, trotz vieler Neuerungen, die den Wettbewerb menschlicher und sanfter werden lassen sollen – das System bleibt in seinen Grundzügen dasselbe.

Es ist ein Samstag, der letzte Tag in der Vorrunde des Joseph Joachim Violinwettbewerbs 2021, und soeben betritt Zhixin Zhang die Bühne. Sein Auftritt war eigentlich für den Vortag geplant gewesen, er war auch wie vorgesehen angetreten, nur dann hatte er plötzlich abbrechen müssen. Er hatte das Gefühl verloren in seinen Fingerspitzen, in seinen Armen. Nach einer ärztlichen Untersuchung bekommt er also eine zweite Chance, und diesmal klappt es. Seine Finger machen mit, unter Applaus verlässt er die Bühne als letzter der Kandidaten. Die Jury zieht sich zurück und berät. Als die Juryvorsitzende Carolin Widmann diejenigen auf die Bühne ruft, die es in die Semifinalrunde geschafft haben, ist der Name Zhixin Zhang nicht dabei. Er ist einer der 28 von 36 Eingeladenen, die den Semifinalisten, insgesamt sechs Frauen und zwei Männer, vom Parkett aus Applaus spenden. Später sieht man enttäuschte Gesichter im Foyer, manche vermitteln den Eindruck von Traurigkeit oder wirken einfach nur erschöpft. Es gibt aber auch jene, die gelassen bleiben. Zhixin Zhang ist einer davon.

Ich treffe ihn am Tag darauf in einem Café. Weil er sich einige Minuten verspätet, besteht er darauf, meinen Cappuccino zu bezahlen. Wir setzen uns auf weiße Metallstühle, umgeben von vorbeitreibendem Herbstlaub und Passanten. Ob er sehr enttäuscht sei? Eigentlich nicht. Wobei, natürlich schon, ein wenig zumindest. Aber so sei das nun mal mit Wettbewerben, die meisten Teilnehmer kommen nicht weiter. Viel schlimmer als die Enttäuschung sei die Aufregung gewesen, der Druck vor dem Wettbewerb, sagt Zhixin. Er habe kaum geschlafen, pausenlos geübt. Und dann war das mit seinen Fingern passiert. Kurz blickt er zur Seite, dann lacht er wieder. Wettbewerbe seien eben wichtig. Warum? Es gehe darum, Kontakte zu knüpfen und Angebote für Konzerte zu erhalten. Besonders gut funktioniere das natürlich nur, wenn man gewinnt und nicht gleich rausfliegt. Wieder lacht er, sein Lachen ist ansteckend. Etwas nachdenklich fügt er an, dass, egal ob man nun gewinnt oder verliert, man doch immer viel dazu lernt.  

Der 21-Jährige stammt aus Peking, heute studiert er in Zürich. Es war seine Kindergärtnerin, die den Impuls zum ersten Geigenunterricht gab. Das Kind sei so unruhig, berichtete sie den Eltern, und gegen diese Hibbeligkeit helfe am besten, ein Musikinstrument zu erlernen. Dass Zhixin von Natur aus ein aufgeweckter Mensch ist, merkt man noch heute. Er erzählt von seiner Gastfamilie, und wie froh er darüber ist, nicht in einem anonymen Hotelzimmer schlafen zu müssen. Stattdessen fühlt er sich während des Wettbewerbs von fürsorglichen Menschen umgeben, mit denen er schöne Gespräche führen kann und von denen er viel Unterstützung erhält. Ein wenig habe das auch mit dem Stress geholfen. Ich frage, ob er auch bei Konzerten im Vorfeld so nervös sei. Er schüttelt den Kopf, das sei etwas ganz Anderes. Bei Konzerten gehe es nur um die Freude an der Musik. Man spielt gemeinsam, man musiziert für das Publikum. Und niemand sitzt da, zwischen den Zuschauern, mit Bleistift, und bewertet die Leistung. Beim nächsten Wettbewerb will er sich aber vorstellen, es sei ein ganz normales Konzert, denn eigentlich sei das ja auch sehr ähnlich. Insbesondere bei diesem Wettbewerb. Aber so richtig sei ihm das erst bewusst geworden, als das Publikum am Ende seines Auftritts laut applaudiert hatte. Das habe gut getan.

Als ich ihn nach seinen Zukunftsplänen frage, lacht er wieder. Es gebe immer jemanden, der besser ist, als man selbst. Besonders als Violinist. Aber er wolle sich trotzdem an einer Solokarriere versuchen. Wenn das nicht klappt, gebe es immer noch die Möglichkeit, in einem Orchester zu spielen. Das, so merkt er schmunzelnd an, sei der große Vorteil von Streichinstrumenten. Als Pianist habe man es da entschieden schwerer, denn es gibt keine Orchesterliteratur, in der mehr als ein, maximal zwei Pianisten gefragt sind. Die Anzahl der benötigten Violinisten aber liegt oft im zweistelligen Bereich. Zhixin Zhang wünscht sich, in Europa bleiben zu können. Ein Grund dafür sei, dass nahezu alle großen Komponisten in Europa gelebt und gewirkt haben. Ob er auch gerne chinesische Literatur spielt? Auch, ja. Er habe etwas vorbereitet gehabt, falls er weiter kommt im Wettbewerb, aber das sei ja jetzt nicht der Fall. Ansonsten versuche er bei jedem Konzert mindestens ein Werk von einem chinesischen Komponisten zu integrieren.

Zhixin erzählt mir ein wenig von seiner Geige. Es sei ein Leihinstrument, die selbe Generation wie Stradivari, also Anfang 18. Jh. Er möchte sich jetzt aber eine eigene kaufen, es gebe da einen Geigenbauer in Hamburg. Als er mir den Kaufpreis seines Leihinstruments verrät, frage ich ihn, ob er nicht Angst hat, seine Geige zu verlieren oder irgendwo zu vergessen. Jetzt nicht mehr, sagt er und lacht wieder. Früher aber habe er sich im Zug überall Zettel hingelegt, auf denen Dinge standen wie „Don’t forget your violin!“ Mittlerweile habe er keine Angst mehr, seine Geige zu vergessen. Er habe sie quasi immer dabei, und das schon seit so vielen Jahren. Mir fällt auf, dass er seine Geige heute nicht mit dabeihat.