Organlos im elektrischen Dschungel

Berta Weidental, 31 Jahre

„Electrical Jungle“ beschäftigt sich mit der Frage: Wer hat die Macht, sich zu äußern? Und wenn wir durch technische Möglichkeiten ermächtigt werden, Kontrolle auszuüben, wie gehen wir dann damit um? Was ist Gewalt und wo fängt sie an? In „Electrical Jungle“ wird das Machtgefüge von Zuschauer und Performerin umgekehrt. Das Publikum weltweit wird über die APP von Silvia Rosani dazu ermächtigt, in die Performance und das Storytelling einzugreifen. Je nachdem wie vom Publikum eingegriffen wird, verändert sich die Geschichte. Dasselbe passiert mit den Sounds. 

Grundlage der Performance ist das Gedicht  „Maurersfrau“ von Kinga Tóth, das sich auf eine alte ungarische und sehr grausame Ballade bezieht. In der Geschichte  geht es um das Ausgeliefertsein und die Aufopferung der Frau. Es geht um das Eingemauertsein und um das Martyrium der leidenden Frau, die mit ihrer Kraft das ganze Haus tragen muss und dadurch Opfer von Gewalt ist.

Auf der Bühne  sitzt Kinga Tóth. Sie ist eingemauert in einen Haushalt, umzingelt von Haushaltsgeräten und gefesselt durch Haushaltsrituale.  Jeglicher  Fluchtversuch wird durch den Wäscheständer verhindert, der kein Durchschlüpfen erlaubt. Zu sehen ist eine „gute ungarische Frau“, ganz nach den Vorstellungen der ungarischen Regierung, die in einen unverständlichen Klagegesang aus englischen und ungarischen Wortfetzen ausbricht. Dieser wird immer wieder unterbrochen von sich aktivierenden Haushaltsgeräten, die vom Publikum über die extra dafür entwickelte APP gesteuert werden. Man wird live Zeuge von Gewalt und Hilflosigkeit. Immer wieder wird Kinga Tóth das Wort abgeschnitten, sie wird rücksichtslos mit dem Föhn angepustet und vom Rasierapparat  in Anspruch genommen. Dabei unterbricht Kinga immer wieder ihr Selbstgespräch und tritt in Kommunikation mit den Geräten. Ein Erlebnis, das bei mir Gänsehaut und Schüttelfrost hervorruft. Ich als Zuschauerin traue mich nicht, diese APP zu bedienen. Ich habe Scheu, diese Gewalt auszuüben. Ich bin geschockt und irritiert. 

Im Gespräch mit den beiden Künstlerinnen Silvia Rosani und Kinga Tóth wird schnell klar, dass das Projekt noch in den ersten Schritten steckt, ein Work-in-Progress. Die beiden erklären, dass es in der gezeigten Sequenz erst einmal  sehr um Häusliche Gewalt und Aggression geht und darum, was passiert, wenn jemand bewaffnet und zur Gewaltausübung auffordert wird.  Es sind noch verschiedene weitere Sequenzen geplant, in denen auch die Performerin auf der Bühne das Publikum manipulieren soll oder in denen es einfach nur um das Kennenlernen der Haushaltsgeräte und Neugier geht. So soll auch das Publikum Lust bekommen, experimentell an die Performance heranzugehen. 

Des Weiteren erklären sie mir zum Konzept, dass der „Electrical Jungle“ in der Performance als gleichberechtigendes Kommunikationssystem fungieren soll. Technologie wird als neuer natürlicher Lebensraum für Frauen festgelegt. Der „Electrical Jungle“ verbindet die Frauen auf unsichtbare Weise. Durch technische Kommunikation entstehen neue Machtgefüge, Freiräume und Verbindungen. Gibt es in diesen Netzwerken Möglichkeiten für eine spezielle weibliche Kommunikation, und können Frauen damit wie Bäume oder Tiere in einer nonverbalen, unsichtbaren Art und Weise in Verbindung treten und miteinander kommunizieren? Ähnlich wie die Frauen in Kinga Tóths Gedicht, die Opfer von häuslicher Gewalt werden und als Geister oder Salzengel unsichtbar an unserem Leben partizipieren und über Elektrizität und Antennen miteinander kommunizieren?

Die eingemauerte Frau aus der Ballade soll dem Konzept der freien „organlosen Frau“, einer von Szabina Péters gestalteten Skulptur, gegenübergestellt werden. Die organlose Frau ist frei und kann sich selbst neu erfinden. Dabei ist sie offen für jegliche Verbindungen, die im elektrischen Dschungel möglich sind. Sie ist nicht leer, im Gegenteil, sie ist bereit, sich mit anderen Frauen zusammenzuschließen oder eins zu werden mit der Erde, Blumen, Wind oder anderen Naturelementen.

In welche Richtung sich das Projekt weiterentwickelt und mit welchen Ideen und Formaten es sich noch verbindet, dem stehen Silvia Rosani und Kinga Tóth offen gegenüber. Sicher ist: das Werk bleibt experimentell. Ein lebendiges, vielversprechendes Projekt, an dem es sich lohnt dran zu bleiben und es weiter zu verfolgen. Ich bin schon sehr gespannt auf die  finale Performance.

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