„Neue Musik ist für mich Musik, die mein Ohr und meinen Kopf herausfordert und mich auch immer energetisch mitreißt“, meint Felix Nagl, Pianist des Trios Pony Says und im Moment mein Interviewgast. Thilo Ruck, Gitarrist und selbsterklärter Herausforderungs-Junkie nickt. „Es ist immer eine Überraschung“. Die beiden Jungs haben es sich gemeinsam mit Schlagzeuger Lucas Gérin, dem Dritten im Bunde, zum Beruf gemacht, Stücke bei berühmt-berüchtigten Komponisten in Auftrag zu geben und diese dann natürlich auch zu spielen, mit ihrem ganz eigentümlichen Stil, der von Nagl und Ruck als „elektrisch, körperlich und Set-up-Design“ beschrieben wird. „Set-up-Design?“, frage ich verwirrt. Die beiden lachen und erklären mir, dass es sich mit dem von Thilo geprägten Begriff um die Flexibilität und Anpassung an neue Herausforderungen neuer Stücke handelt.
So ist es auch an diesem Abend. Nach monatelanger enger Zusammenarbeit werden die „Ponies“, zwei auf unterschiedliche Arten herausfordernde Uraufführungen zum Besten geben. Zwei Werke, zwei Komponisten, die zwar beide aus den USA stammen, unterschiedlicher jedoch nicht sein könnten. Das hatten auch Pony Says im Kopf, als sie ihre Komponisten auswählten. „Es war definitiv klar, dass sie sich sehr gut ergänzen werden“ antwortet Thilo Ruck. Jessie Marino, übernimmt in ihrem Stück selbst die Rolle der Erzählerin, während Steven Takasugi sich auf Zuhören, gelegentliches Nicken und stolzes Grinsen in den Zuschauerrängen beschränkt. Wie ich in der Probe exklusiv hören darf, ist die Unterschiedlichkeit der Komponisten und Stücke kein Euphemismus für zwei minimal verschiedene atonale Stücke á la Alban Berg, sondern ein Unterschied wie Himmel und Erde, der die Grenzen der neuen Musik austestet, vielleicht sogar sprengt. Denn Jessie Marinos Stück ist eigentlich nicht atonal. Es steht in B-dur. In meinem Kopf gehen alle Alarmlampen an. Neue Musik? Ist das nicht immer atonal? Darf sie das?
„Neue Musik sollte sich das Recht nehmen, musikalische Pfade immer neu auszuloten. Das 70er Jahre Denken, dass alles atonal und spröde und strukturell sein muss, das ist längst nicht mehr en vogue“, sagt Thilo. Also beschließe ich nach ein bisschen Überlegen für mich: Ja, sie darf. Steven Takasugi fordert das Trio auf ganz andere Weise. Eine durchgehende Tonbandaufnahme bildet die Basis des Stück, die drei Ponies spielen live dazu.
In der Probe für Jessie Marinos Stück „The ideal Hour/ Collages with Tom“ frage ich mich, was sich da vor mir auf der Bühne abspielt. Ein Tisch ist aufgebaut, dahinter sitzt eine Frau in einem neonpinken T-shirt, die scheinbar unzusammenhängende Laute von sich gibt. Ich erkenne bald: Die Frau ist Jessie Marino selbst. Vor ihr stapeln sich diverse Percussion-Utensilien, irgendwo auch ein Küchenlöffel. Ein kleiner Ball dreht sich auf einem türkisen Plattenspieler, im Hintergrund flackert ein weißes Bild auf einer Leinwand. Das Trio ist nirgendwo zu sehen. Als sie dann nacheinander auftauchen, bleiben sie vor drei Mikrofonen stehen, anstatt sich hinter ihre einladend aussehenden Instrumente zu setzen. Angst überkommt mich. Werden sie etwa singen? Pony Says beginnen auf Maultrommeln zu spielen und untermalen damit Jessie Marinos anfangs noch zurückhaltende Stimme. Marino spricht sanft, scheint auf nie gestellte Fragen zu antworten, interagiert mit Pony Says durch Aufforderungen wie „Voulez vous parlais“? sogar verbal und wirft erstmals ein zentrales Motiv des Stücks in den Raum: Den Weg nach Chicago, „the city in the middle of the lakes. Is this a destination? Ah, it’s all right.“ Und so beginnt mit wechselnden Tempi, mit lauter, leiser, sanfter, aggressiver, bedrohlicher Stimme der letzte Teil des Stücks, eine Odyssee nach Chicago, unternommen von vier Freunden in einem Auto voller Löcher, „much like this plot“. Die perfekte Abstimmung von Sprache und Rhythmus, das breite Grinsen im Gesicht des Trios, wenn Jessie mit Loops und Wiederholungen eine komische und selbstironische Wendung in ihrer Geschichte erzeugt, all das lässt mich auch nach der Probe nicht mehr los. Selbst als Marinos Mikrofon ausfällt, spielt Lucas Gérin den Beat mit dem Schlagzeug einfach weiter. Die Atmosphäre ist so selbstverständlich, als ob dieser Unfall in den Noten stünde. Diese Flexibilität ist nicht nur unfassbar beeindruckend, sondern machen Pony Says auch als Künstler aus. Auf der Bühne ist eine eigene kleine Welt entstanden, die vier Künstler arbeiten wie eine Maschine und haben scheinbar auch noch einen Heidenspaß dabei.
Die dreißig Minuten von „The ideal hour/Collages with Tom“ fühlen sich an wie zehn Minuten. Als der letzte Ton verklingt, fühle ich mich seltsam leer, als würde mir ein wichtiger Teil der Geschichte noch fehlen. Am liebsten würde ich das Stück noch fünfzigmal hören, nur um auch jedes kleine komponierte Detail, jede Interaktion auf der Bühne in mich aufzunehmen. Als Jessie Marino also einen neuen Durchlauf mit „Ponies ready? Ponies ready! Let‘s go“ ankündigt, rutsche ich auf meinem Sitz weit nach vorne.
Ganz im Kontrast zu Jessie Marino steht Steven Takasugi, der eine klassischere Form der neuen Musik für Pony Says komponiert hat. „Die Klavierübung“ beginnt ganz ruhig, jeder einzelne Ton wird gehalten und ausgespielt, bevor das Stück sich immer und immer weiter steigert. Über das gesamte Stück hinweg spielt die Musik mit einem Wechsel zwischen laut und leise, mal hört man viel zu viel und fühlt sich unfassbar überfordert, mal wird es plötzlich wieder ganz sanft, ganz leise. Es scheint zuweilen so, als würde Pony Says mit ihren Instrumenten auf den Zuhörer einprügeln, nur um ihn dann gleich wieder in eine warme weiche Decke zu hüllen. Diese Dualität überfordert mich. Ich fühle mich wie eine Ameise, die wieder und wieder von einer Welle aus Klängen überrollt wird. Das ganze Stück ist ein Kraftakt. Es passieren dreitausend Dinge gleichzeitig, der Blick schweift ab und im nächsten Moment spielt Felix Nagl auf Keyboard und Piano gleichzeitig, zupft nebenbei auch noch die Saiten des Klaviers und Thilo Ruck schlägt mit der Handkante auf eine Gitarre ein, die auf einem Stuhl vor ihm liegt. Die Hände von Lucas Gérin scheinen sich vom Rest des Körpers verabschiedet zu haben und führen ein Eigenleben auf dem Marimbaphon. Das Stück klingt wie ein Bienenschwarm, ein Schwirren und Sirren über verstimmten Klavieren und den brodelnden Klängen des Tonbands. Zwischen den Sätzen scheinen die drei wie unbewegte Puppen, wartend auf den nächsten Befehl, dessen Überbrückungszeit sich wie das Ende des Stücks anfühlt, bis sie wieder anfangen zu spielen. Der tatsächliche Schluss ist unerwartet und abrupt, man hat keine Zeit, sich darauf vorzubereiten und vermutlich soll man es auch gar nicht. „Die Klavierübung“ ist sicherlich kein einfaches Stück, weder als Zuhörer, noch als Instrumentalist. Doch trotzdem bin ich fasziniert, nicht nur von Steven Takasugi, sondern vor allem von Pony Says, die sich sowohl in der Probe, als auch auf der Bühne die Seele aus dem Leib gespielt haben.
Als sich die drei Künstler schwer atmend aufrichten, sich angrinsen und schließlich verbeugen, ist der Applaus tosend wie selten bei diesem Festival. Ich lächle in mich hinein, fühle mich unfassbar privilegiert, die Stücke mit ihren gewaltigen Atmosphären nicht nur mehrfach in Probe und Auftritt erlebt haben zu dürfen, sondern mich auch mit dieser ganz besonderen Gruppe von Musikern unterhalten zu haben.