Raum für Klang in neuem Kontext

Hannah Schneider, 28 Jahre

Ein uneindeutiger Ton wabert durch den Raum. Aus welchem Klangkörper entstammt er? Wo ist seine Quelle? Das Publikum ist orientierungslos. Der Schall, der so durch Mark und Bein geht, wirft essentielle Fragen auf, die unserer Menschlichkeit zugrunde liegen: Was ist Heimat? Wohin, wenn ich diese Heimat verloren habe? Marta Gentiluccis Canzoniere I lässt die Zuhörenden wandern, durch den Raum, durch die Zeit. Ein Wortfetzen Russisch durch die geräuschhaften Sphären – ein Gefühl weit entfernter Familiarität durch den Nebel der Jahrhunderte. Die Gedichte der Autorinnen werden eingewoben in den Klangteppich, der von Verlust und Wiederfinden berichtet. Eingehüllt in eine Wolke, in welcher Stimme, Elektronik und Perkussion kaum mehr zu unterscheiden sind, geben diese präzise artikulierten Lichtblicke Hinweise auf die Antworten zur Frage nach Heimat und Zugehörigkeit. Wo die menschliche Stimme der Sängerin Sarah Maria Sun aufhört, die perkussiven Klänge von Vanessa Porter weitergehen und die elektronisch erzeugten Schwingungen anfangen, ist kaum festzumachen.

Der helle Ton einer Klangschale ruft das Publikum zurück in den Raum. Durchdringend, fokussierend. Dann noch ein sanfter Schlag, der eine weitere Welle dieses Wohlklangs erzeugt, noch einmal. Der Fokus weitet sich auf den Raum, aber er bleibt. Gentilucci schafft das schier unmögliche: sie macht den Raum greifbar, begreifbar. Die hellen Klänge sind wie ein sanfter Regen auf der Kopfhaut und schaffen ein multidimensionales Bewusstsein. Ich bin mir der Räumlichkeit, die ich nur durch meinen Bildschirm erblicken kann, hyper-bewusst. Meine unmittelbare Umgebung verwandelt sich in die Stuttgarter Bühne, ich spüre ihre Dimensionen, nehme war, wie sich der Klang in ihr ausbreitet. Die Weise, wie der klangliche Nebel mich umgibt und meine Synapsen einhüllt, diese spürbar knistern lässt. Nach dem Verklingen dauert es noch eine Weile, bis ich wieder im Hier und Jetzt ankomme.

Bei einem Interview am Tag nach dem Konzert bestätigt Marta Gentilucci diesen räumlichen Eindruck noch einmal: „For me, working with electronics is a deep pleasure and desire to create new spaces and to give space to or re-space things, to give birth to sounds in another context.”