Sprechen, auch ohne Worte

Sophie-Caroline Danner, 23 Jahre

Welche Rolle spielt der Text für ein Stück? Und sollte das Publikum den Text verstehen, oder zumindest kennen? Oder ist er nur von Bedeutung für den Kompositionsprozess? Beim ECLAT Festival gibt es vier Kompositionen von Sergej Newski zu hören. Drei kürzere Stücke beim Kammerkonzert und seine Oper „Secondhand-Zeit“, die, zusammen mit Modest Mussorgskis „Boris“, an der Stuttgarter Staatsoper aufgeführt wird. Nach der Generalprobe für das Kammerkonzert und einem ersten Eindruck der Stücke spreche ich mit Sergej Newski darüber.

Das erste Werk heißt „Track #3“, die Vertonung eines abstrakten Poesiekomplexes. Newski hat dafür die Texte dreier Gedichte von Denis Larinov bearbeitet. Die deutsche Übersetzung steht im Programmheft. Auch wenn der Text Inspiration und somit von großer Bedeutung für Newskis kompositorische Arbeit ist, kommt es im Konzert nicht darauf an, dass das Publikum den russischen Text versteht. Newski sagt, das Publikum müsse sich dann „von der Musikassoziative leiten lassen.“ Als Grundbesetzung sind drei Männerstimmen und Kontrabassklarinette vorgesehen. Diese werden durch Gitarre und einen wiederkehrenden Kazoo-Chor erweitert. Kazoos, also Membranophone, weisen für Newski eine klare Verwandtschaft zur Kontrabassklarinette in Form von Obertönen auf. Es ergibt sich eine Collage aus verschiedenen Gesangs-/Spieltechniken und Bewegungsabläufen, die sich überlagern, unterbrechen und gemeinsam entwickeln. Diese Art der Entwicklung und Körperlichkeit ist für Newski von zentraler Bedeutung und sei für das Publikum das eigentlich Spannende. Herausstechend ist die Interaktion der einzelnen, zunächst heterogenen, Klanggruppen. Die Kazoos unterbrechen die Kontrabassklarinette, die „unklassische“ Spieltechniken ausführt wie Multiphonics, Klappengeräusche oder Hauchen. Sie fragmentieren diese Stimme. Ungefähr in der Mitte des Stücks setzt eine Gitarre ein, die in Lagerfeuermanier Akkorde schrubbt, was ein Schmunzeln durch das Publikum schickt – das klingt für neue Musik abnormal normal. Die „schönen“ Akkorde werden auch bald durch krasse Dissonanzen der Männerstimmen torpediert, die ihre ganz eigene Melodie und Entwicklung machen. Die Gitarre hält noch eine Weile dagegen, bis sie dann abbricht. Immer und immer wieder versucht sie den Einsatz, wird jedoch jedes Mal aufs Neue unterbrochen und bricht jäh in der Phrase ab. Eine gemeinsame Entwicklung finde ich schwer erkennbar. Auf mich wirkt das ganze mehr wie eine Gruppe, die aus Individuen besteht, welche nicht aufeinander hören und am liebsten ihr eigenes Ding machen würden.

Ganz anders im zweiten Stück. „Votre MM“ hat einen Brief zur Grundlage, den die Theologin Mère Marie Skobtsova an ihre Mutter schrieb, bevor sie im Konzentrationslager Ravensbrück starb. Dafür setzt Sergej Newski Stimme, Bassklarinette, Violoncello und Klavier ein, die miteinander die Grausamkeit hinter diesem banalen Text über Zigaretten und Essen verdeutlichen. Mehr kratzende Spieltechniken und eine Stimme, die am Bruch von Singen und Sprechen an ihre Grenzen kommt. Französisch muss man nicht können, um mitzubekommen, dass der Text keine große Rolle spielt. Immer wieder kann man Fragmente verstehen „chere mère […] Cigarette […] des bisquites“. Erst im Kontext zur Geschichte dieser Nonne, die deportiert wurde, nachdem sie Juden half, macht das Stück komplett. Sopranistin Susanne Leitz-Lorey steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Instrumente haben eine einerseits gleichberechtige, andererseits begleitende Funktion.

Newski sagt im Interview: „Ich arbeite mit Stimme am gernsten, sie ist mein Lieblingsinstrument und ich fühle mich sehr wohl und sehr frei.“ Das ist für ihn aber kein Grund, nicht auch für rein instrumentale Besetzungen zu komponieren. So war sein Klavierquartett zu hören. Er spielt hier mit der „musikalischen Zeit“ als Illusion. In der Probe hat er mich erwischt und wahrscheinlich auch den Großteil des Publikums. Mit der musikalischen Zeit meint er ein imaginär durchgehendes Tempo, das sich nur in den Köpfen der Zuhörer ändert. Diese Illusion erzeugt er, indem kurze und lange Notenwerte kontrastierend hintereinander und aufeinander gespielt werden. Mal spielen die Streicher lange liegende Töne und das Klavier schnelle Läufe und Sprünge, mal andersrum. Mal gegeneinander, mal zusammen. Mal getrennt, mal gleichzeitig. So ändert sich das gefühlte Tempo mal kontinuierlich, mal ganz plötzlich. Zum Schluss spielt das Klavier einen tiefen, langen Ton. Das passt den Streichern scheinbar nicht – sie setzen energisch ein. Als das Klavier dann einen hohen Ton ganz sanft anschlägt, herrscht Ruhe. Man konnte sich auf einen Ton einigen, der lange liegt und in seiner Zartheit doch schnell verfliegt. Das Stück hat keinen Text, und doch kreiert Newski eine Art Subtext, ein Konzept oder sogar eine Geschichte, die ihre eigene Sprache findet.

Wie vielseitig Sergej Newski mit Text umgehen kann, zeigt sich einen Abend später: In der Staatsoper Stuttgart wird „BORIS“ aufgeführt. Das Publikum erlebt zwei Opern an einem Abend. Zum einen Modest Mussorgskis „Boris Godunow“ und Sergej Newskis „Secondhand-Zeit“, das zwischen den sieben Bildern von „Boris Godunow“ eingestreut wird. Die Stücke haben erstmal nicht viel miteinander zu tun, verzahnen sich an dem Abend jedoch auf interessante Weise. Dies passiert dadurch, dass Mussorgskis Nebenrollen zu Newskis Hauptrollen mit traumatischen Lebensgeschichten werden.

Das Libretto zu Newskis „Secondhand-Zeit“ besteht aus Texten des gleichnamigen Buchs von Nobelpreisträgerin Svetlana Alexijewitsch. Sie erzählt Einzelschicksale, die bedrücken, aufrütteln, verstören. Die Mutter eines 14-jährigen Selbstmörders; ein Jude, der sich den antisemitischen Partisanen anschließt, nachdem er eine Massenerschießung der Nazis überlebt hat. Newski wählt vier weitere Personen aus, die an dem Abend mit auf der Bühne stehen.

Es kommt Newski auf die Lebensberichte an: „Deswegen habe ich die Oper auf Deutsch geschrieben, damit das Publikum was versteht, dort ist der Text sehr wichtig.“ Newskis Art, mit dem Text umzugehen, ist in vielerlei Hinsicht besonders. Der Gesang kommt mal atonal, mal überraschend tonal daher. Es klingt, als soll den Sänger*innen zuweilen die Stimme entgleisen. Eine Art nach oben rutschen, ein Krächzen, Kratzen. Außerdem sprechen die Sänger*innen. Sie erzählen, wie bei einem Schauspielmonolog, ihre Geschichten. Sie nehmen keinen Bezug zueinander, treten nicht in Interaktion, hören sich gegenseitig nicht zu. So kommt es auch, dass sie zum Teil zu zweit, dritt oder zu noch mehren gleichzeitig berichten. Die Darsteller*Innen artikulieren sehr präzise, sind für sich gut verständlich, und dennoch ist es dem Zuschauer unmöglich, alle Geschichten gleichzeitig vollständig zu verfolgen und zu verstehen. Das Konzept Übertitel, die als Textfetzen drei oder mehr Rollen gleichzeitig (in lediglich drei Zeilen) repräsentieren sollen, scheitert an der Aufgabe und ist somit auch keine Hilfe für den Gesamtüberblick.
Ich begriff dies als Fluch und Segen zugleich. Zum einen kann so diese Mannigfaltigkeit der simultan existierenden Einzelschicksale in einer erschütternden, zum Teil erschlagenden Dichte gezeigt werden, und zugleich muss sich Newski dem Vorwurf der Überforderung und Unverständlichkeit für das Publikum stellen.