Strippen ziehen und leiten mit bloßen Händen

Marla Engelschalk, 22 Jahre

Dorothee Oberlinger dirigiert ohne Stab, nur mit ihren Händen. Und mit diesen Händen hält sie auch das ganze Festival. Sie ist seit 2018 die künstlerische Leiterin der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. Sie kuratiert das Programm, tritt selbst als Dirigentin und Blockflötistin auf und noch so vieles mehr. In einem Interview gibt sie uns Einblicke in ihre Welt und inspiriert uns, unseren eigenen Weg zu gehen.

Dirigieren ist ja so eine Sache, die die meisten Menschen nie tun werden. Instrumente spielen viele, aber Dirigieren ist ja nochmal was ganz anderes. Wie fühlt sich das an?

Ja, also ich dirigiere ja noch nicht so lange, wie ich Flöte spiele und bin sozusagen über die Flöte zum Dirigieren gekommen. Ich habe mein eigenes Ensemble 2002 gegründet und mit dem dann Projekte initiiert. Und dann steht man natürlich vor dem Orchester, man versucht zu vermitteln, was man für Vorstellungen von den Stücken hat und leitet sozusagen vom Instrument aus.

Und das ist vielleicht ein erster Schritt, dass man sozusagen die Richtung, die Dynamik, die Artikulation, die Sprache, die Verzierung, die man macht, die Emotionen in den Stücken – dass man versucht, das gut zu erklären. Es hat auch sehr viel mit Psychologie zu tun. Wie man sozusagen in einer Gruppe zusammenfindet, so dass alle auch dafür brennen und wirklich alle an einem Strang ziehen. Das habe ich erst mal als Flötistin gemacht. Und dann war halt der Schritt zur Oper nicht weit, einem Genre, das ich auch toll finde. Wenn man an so einem Gesamtkunstwerk arbeitet, wo man Text hat, also ein Libretto, Gesang, Bühnenbild, Kostüm und das alles mit der Musik an einem bestimmten Ort zusammen geht.

Dieses dramaturgische Kreieren von einer Geschichte hat mich schon immer interessiert. Man muss halt sehr viel im Voraus, im Kopf hören und wissen, wie klingt das und darf sich nicht auf das klangliche Ergebnis, was man hört in dem Moment verlassen, weil zum Beispiel so eine Akustik ja sehr schwammig ist und es kommt ja später bei mir an. Wenn ich dann sozusagen langsamer werde, weil ich den Klang später höre, dann ist alles vorbei. Das heißt, ich kann nur das, was ich innerlich voraus höre, weiter dirigieren, wie so eine Maschine und muss sozusagen immer bei mir bleiben und alle Impulse, immer antizipieren, damit alle mitkommen.

Also ich kann nicht in dem Moment den Impuls geben, das ist wie beim Autofahren. Da kommt die rote Ampel, dann reicht es nicht, wenn ich dann an der roten Ampel auf die Bremse trete – dann ist es zu spät. Sondern ich muss vorher die Bremse bedienen oder ich muss vorher anziehen, ich muss die Leute warnen, ich muss sie ins Boot holen, dass es gleich weitergeht. Ich muss meine Mitmusikerinnen und Mitmusiker sofort in die Atmosphäre bringen, und das ist eine sehr spannende Aufgabe. Ich meine, dazu studieren die Leute jahrelang und machen eine lange Kapellmeisterausbildung und ich hatte es so eher Learning by Doing, also es ist ein etwas anderer Weg, der aber natürlich auch möglich ist.

In meinem Fall komme ich natürlich mehr als Spezialistin aus der alten Musik und kann dann sehr spezielle Dinge mitbringen, auch vielleicht an moderne Orchester, die nicht wissen, wie man jetzt zum Beispiel so eine Musik spielt. Mit diesen Vorzügen kann ich kommen, habe aber jetzt nicht acht Jahre Schlagtechnik an einem Haus studiert oder so.

Und eine Oper zu studieren ist bestimmt noch schwieriger?

Für mich ist es einfach toll, diese fantastische Musik zu formen. Ich muss ja sehr viele Entscheidungen treffen. Denn in so einer barocken Partitur steht nicht: Hier spielt das Fagott und hier die Laute. Wann spielt die Harfe? Wann spielt der Kontrabass? Das sind meine Entscheidungen. Oder wann spielt die Geige solo? Wie ist die Charakteristik von dem Tanz, der da jetzt gerade kommt? Welche Geschwindigkeit hat das nächste der insgesamt über 100 Einzelstücke in dieser Oper? Wo geht die Phrase hin? Das alles mit dieser Musik zu machen, ist äußerst spannend.

Und eben auch schwer, weil es wirklich so ein langes Stück ist, mit so vielen sehr kleinteiligen Nummern von manchmal vielleicht 30 Sekunden. Und dann kommt schon die nächste und die nächste und die nächste. Dass es nicht nach zusammengesetzten Kram sich anhört, sondern wirklich einen Atem bekommt am Ende, eine Geschichte, die auf irgendwas hinzielt und wie in so einem griechischen Drama am Ende eine Katharsis hat.

Wie kam es denn zu dem Thema der diesjährigen Festspiele, „Grand Tour“? Gab es da irgendeinen besonderen Beweggrund?

„Grand Tour“ ist ein Thema, das ich selber schon in Konzerten sehr oft zum Thema hatte, weil ich es auch spannend finde. Also diese Reisen, vor allem im 18. Jahrhundert, das steht auch hier ein bisschen im Zentrum, wobei wir das natürlich öffnen, zu exotischen Reisen und auch Reisen in anderen Jahrhunderten, klar. Aber die ursprüngliche Idee ist eine barocke Idee gewesen.

Wir suchen natürlich immer ein Thema, das irgendwie mit Potsdam zu tun hat. Und dieser Ort zeugt von Souvenirs, die sozusagen gesehen wurden, vielleicht auf Reisen und die man dann hier installiert hat. Wie so ein Palazzo Barbarini, der eins zu eins so in Rom steht oder so. Das ist natürlich so, weil der Eindruck geschunden hat hat auf einer Italienreise, und dann wird er halt hier so hingestellt.

der das Orangerieschloss, das war jetzt der romantische König, der Friedrich Wilhelm IV. war als Tourist in Italien unterwegs. Das ist dann keine Grand Tour mehr in dem Sinne, also er ist nicht losgeschickt worden von seinem Vater, sondern er ist aus eigenen Stücken da hingereist, weil er sich in der Kultur bilden wollte. Und sieht dann in Florenz und in Rom die Palazzi und diese Eindrücke sind eingeflossen in dieses Schloss.

Ich finde, ein Motto muss immer einfach nur Inspirationsgeber sein und dann kann man frei damit arbeiten. Es darf einen nicht irgendwie festbinden und es soll für die Künstler, die hier spielen, eine Inspirationsquelle sein, in der man einen kleinen Ansatzpunkt findet und dann was Neues daraus kreieren kann.

Sie kuratieren ja das Programm. Und gibt es da irgendwas, worauf Sie achten jetzt, worauf man von außen jetzt vielleicht nicht kommen würde? Also außer natürlich, dass jeder sein Instrument beherrscht, der hier spielen soll. Was bedeutet „Originalklang“ im Festival?

Natürlich versuchen wir erstmal die verschiedenen Musikstile mit einander zu verbinden, könnte man vielleicht sagen. Sakrale Musik, weltliche Musik, Musik des 18. Jahrhunderts, Musik des 17. Jahrhunderts, Weltmusik im weitesten Sinne, Improvisation, Jazz, also diese verschiedenen Genres, die ja alle bei den Musikfestspielen eine Rolle spielen.

Jazz ist einfach original, weil es in dem Moment entsteht, Volksmusik ist in dem Moment original, wo man sie mit einem Ort oder Land verbindet und Alte Musik ist in dem Moment original, weil man versucht, das adäquate Instrumentarium der Zeit zu benutzen.

Originalklang im weiteren Sinne steht immer das Zentrum – welche Gruppe man jetzt vielleicht auswählt. Es gibt auch mal ein modernes Streichquartett, das auf Stahlsaiten spielt, durchaus, aber eben im Fokus stehen die historischen Nachbauten von Instrumenten. Und dann natürlich junge Künstler, aufstrebende Künstler, die ich auch fördern möchte, eben in diesem Wettbewerb. Namen der Szenen, also auch Stars der Szene sind genauso wichtig. Bei populären Formaten, wo du 2000 Leute auf einen großen Platz bringen musst, muss man gucken, dass man auch klingende Namen herholt.

Und sowas wie am Alten Markt, das muss halt auch eine breite Schicht der Bevölkerung ansprechen. Jetzt nicht nur die absoluten Alte-Musik-Fans und Kenner und Connaisseurs, sondern Leute, die vielleicht noch nie ein Barockkonzert gehört haben. Es gibt aber auch Programme, die sehr speziell sind, wie jetzt zum Beispiel der Monteverdi in der Friedenskirche. Da werden sicher eher die Barock-Liebhaber hingehen. Dann gibt es Programme für Kinder und Jugendliche, Programme für die Familie. Man kann nicht die eierlegende Wollmilchsau jeden Tag produzieren, die alles sofort kann, sondern es sind dann halt verschiedene Richtungen, die man anbietet.

Ein Programm ist wie so ein Edelstein, an dem man immer schleift, irgendwie soll es dann trotzdem eine gewisse Logik und Stringenz haben. Wie so ein gutes Essen. Es hat jetzt von jedem Gewürz gerade richtig viel und kippt jetzt nicht um in eine Richtung, sondern es hat eine Vielheit, macht zusammen aber ein Kaleidoskop, ein Festessen oder ein Bild.

Wir waren ja auch in dem Lunchconcert von „The Late Train“. Die Flötistin Julia Herzog hat uns über Sie erzählt, dass Sie das ganze Buffet mitbringen würden, ist aber nicht genauer darauf eingegangen, was das jetzt bedeuten könnte…

Ich vermute, das Spektrum des Instrumentariums, aber auch die Spielweisen und die Offenheit.

Ich habe immer versucht, mit meinem Instrument über den Tellerrand zu schauen. Weil ich dachte: Die Flöte kann auch mehr. Aber es ist eigentlich egal, was du für ein Instrument spielst. Du kannst mit Deinem Instrument künstlerisch wirken und kannst völlig über die Grenzen hinausgehen. Ein Lehrer von mir aus Amsterdam, Walter van Hove, hatte immer diese Idee: Guck über den Tellerrand. Er hat uns Theaterregisseure an die Schule geholt. Die haben mit uns gearbeitet, wie man sich auf der Bühne verhält. Wir mussten uns in einen Hund verwandeln zum Beispiel. Oder er hat einen indischen Musiker eingeladen, der uns von Ragas erzählt hat. Also immer wieder ganz in andere Welten reinschnuppern. Also immer zu gucken, den Kosmos zu erweitern.

Und ich finde, wir sind heute so unglaublich einseitig geworden. Man macht ein Studium und dann machst du eine Sache und die machst du dein ganzes Leben.

Die Menschen in der Renaissance hingegen waren oft ein Homo-Universale. Die haben Poesie geschrieben. Die haben ganz viele Sprachen gesprochen. Die waren in vielen Ländern. Die haben viele Instrumente gespielt. Die haben gesungen, die haben komponiert. Die haben viele, viele Fähigkeiten gleichzeitig gehabt.

Und heute studierst du Blockflöte an irgendeiner Hochschule und dann spielst du nur deine barocke Sonate. Das kann es nicht sein.

Und das versuche ich eben meinen Studenten in Salzburg mitzugeben, dass ich sage, du kannst so viel machen damit später. Ein Festival kuratieren und trotzdem tolle Konzerte spielen oder was auch immer.

Wenn Sie in der Zeit reisen könnten, Sie dürften eine Musikerin live hören, wen würden Sie dann gerne live hören und was?

Also diese ganzen Komponisten, von denen ich so oft und so viel spiele, die hätte ich natürlich alle gerne mal persönlich kennengelernt. Also Bach natürlich vorne an. Ich hätte gerne mal gewusst, was das für ein Typ ist und gerne auch gehört, wie das geklungen hat, wenn eines seiner Werke zum ersten Mal erklungen ist. Das Gleiche von Vivaldi. Es gibt ja auch Schilderungen davon, wie der gespielt hat. Monteverdi, Händel, Telemann. Also diese ganzen barocken Komponisten, mit denen ich mich sehr stark beschäftigt habe, weil man ja auch so fast in die Persönlichkeit so ein bisschen reingeht, weil man sehr, sehr viel davon mitkriegt.

Als Frau möchte ich in der Zeit nicht gelebt haben. Ich möchte dann gerne mich sofort wieder zurück beamen und nicht da bleiben, aber mal ein Mäuschen spielen und die Leute mal kennenlernen, auf jeden Fall.

Haben Sie irgendwas, was Sie gerade Frauen in dieser Szene oder generell ambitionierten Frauen mitgeben würden?

Traut euch. Mir fällt auch bei meinen Studentinnen auf, dass die viel, viel selbstkritischer sind als die männlichen Kollegen. Ich will das jetzt nicht pauschalisieren, aber bei vielen ist es so. Und immer denken sie, sie können erst dann ihr Projekt präsentieren, wenn sie das 100% können.

Aber das gibt es nicht, das Hundertprozentige. Traue dich, mach es. Nichts ist peinlich. Versuche dein Bestes zu geben und versuche nicht dein Licht unter den Scheffel zu stellen. Die sind immer so selbstoptimiert, also zumindest meine flötenden Studentinnen. Und sehr, sehr anspruchsvoll und selbstkritisch, was erstmal nicht schlecht ist, aber das steht dann oft im Weg, dass man Bühnenangst hat oder sich immer vergleicht oder so. Und es ist nicht mörderisch, wenn du zwei falsche Töne in dem Konzert spielst. Die dauern für dich zwei Jahre, aber für das Publikum sind es zwei Sekunden. Stattdessen diesen Spirit zu bekommen, dass man sagt: Ich frei.

Es gibt so ein Meme im Netz, ein humorvolles Bild. Da liest jemand im Bus Noten und darunter steht: „Kopfhörer sind überbewertet.“ Es ist quasi so gemeint, als könnte man die Musik direkt hören, wenn man sie liest auf dem Papier.

Können Sie das?

Ja. Aber das ist normal. Ich meine, wenn mir jemand Noten in die Hand gibt, die ich noch nie gesehen habe, dann kann ich die auch sofort in einem großen Tempo vom Blatt spielen, denn man liest als Musikern in dem Moment ja gar nicht jede Note, wie wenn man was buchstabiert. Ich lese ja auch einen Text sofort fließend. So ist es irgendwann auch mit Musik und das kann man im Kopf hören.

So konnte ein Beethoven, der sehr früh taub geworden ist, auch spät tolle Symphonien komponieren, weil er das natürlich alles im Kopf gehört hat.

Und Mozart konnte in diesem Tempo sogar komponieren, auch wenn er nur 37 Jahre alt geworden ist, der hat es schneller geschrieben, als man denken kann, weil alles schon da war.