Anna Klein, ein zwölfjähriges Mädchen mit kurzen braunen Haaren und einem blauen Kleid, ist eine außergewöhnlich talentierte Geigenspielerin. Im zweiten Konzert des Klang-Labors Hechingen spielt sie den ersten Satz aus der Symphonie Espagnole von Édouard Lalo, begleitet von Polina Yakovleva am Klavier. Anna steht in der Mitte der Alten Synagoge in Hechingen. Alle Publikumsplätze in dem historischen Gebäude sind besetzt. Die Zuhörerinnen und Zuhörer sitzen kreisförmig um die junge Künstlerin, wodurch eine ungewöhnlich nahe Verbindung zwischen Publikum und Künstlern entsteht. Dadurch wird die Musik auch unmittelbar spürbar gemacht, wodurch man intensiver zuhört und sich in das Werk mit hineingenommen fühlt. Ich spüre eine Verbindung zu einer Frau, die mir gegenübersitzt. Sie hört dem Stück ebenfalls sehr konzentriert zu. Obwohl ich sie noch nie gesehen habe, ensteht durch diesen Aufbau eine Gemeinschaft.

Zu Beginn wirkt Anna etwas nervös, aber trotzdem lächelt sie. Ihre Freude und Leidenschaft für die Musik sind greifbar. Sie spielt ohne Noten und ist sehr konzentriert. Man merkt, wie ihre Nervosität sich im Laufe des Stücks verflüchtigt. Bei einer Spanischen Symphonie denke ich an etwas Tänzerisches und Rhythmisches, doch hier höre ich eher etwas melancholisch Fließendes, eine Art Traurigkeit mit etwas Hoffnung, was gut zu der Stimmung dieses Abends passt. Als Anna das Stück beendet, kann man ihr die Erleichterung und den Stolz deutlich ansehen. Es breitet sich ein breites, aber auch etwas schüchternes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Das Publikum ist begeistert und es bricht tosender Applaus los. In der darauffolgenden Pause sprechen viele Besucher über das eben Erlebte. Sie sind begeistert von der jungen Geigerin, staunen und sind berührt von ihrem Talent.
Nach der Pause wird das Konzert mit dem Klarinetten-Quintett von Johannes Brahms fortgesetzt. Zwischen den vier Sätzen lesen Schülerinnen und Schüler des Musikprofils Klasse 8b des Gymnasiums Hechingen Textausschnitte aus dem Buch „Dank Dir habe ich überlebt“ von Frida Lorenz, gebürtige Shulamit Marmelstein, einer Überlebenden des Holocausts. Die Worte stammen aus ihren Erinnerungen, die auf eindringliche Weise schildern, was sie als junges Mädchen erleben musste.
„Wir wollen die Musik Geschichten erzählen lassen“ hat Raphaël Schenkel zu Beginn des Abends gesagt. Und genau das passiert, denn das Stück wird zum Träger der Worte, und die Worte verleihen der Musik Tiefe. Dadurch hören die Zuschauer nicht nur, sondern sie fühlen auch die Emotionen in der Musik. Der erste Satz „Allegro“ beginnt mit dunklen und melancholischen Streicherklängen. Die Klarinette steigt sanft ein, warm und rund, wie eine Stimme, die in einem leeren Raum zu klingen beginnt. Die Musik entwickelt sich phasenweise aufhellend, dann wieder in sich gekehrt. Zum Ende hin wirkt es fast zerbrechlich. Der darauffolgende Textausschnitt, nimmt einen mit in die Zeit des Holocausts. Im zweiten Satz von Brahms beginnt die Klarinette mit einer Melodie, welche zart von den Streichern unterlegt wird. Das klingt wie ein einsamer Gesang in einer weiten Landschaft. Der Klang ist weich, träumerisch und beinahe schwebend.
In der Mitte des zweiten Satzes wird die Musik wilder und aufgewühlt, wie ein innerer Sturm, bevor sie wieder zur Ruhe kommt. Es folgt eine weitere Textpassage, in der erzählt wird, wie ihre Mutter Shulamit das Leben gerettet hat. Sie hat ihre eigenen Goldkronen von den Zähnen gerissen, um Shulamit Brot zu kaufen. Der wunde Mund klingt auch noch im dritten Satz nach, schmerzhaft aber auch glücklich, was unterstrichen wird durch das Zupfen der Streicher. Leichtfüßig und anmutig, was an einen höfischen Tanz erinnert. Ein letzter Textausschnitt wird vorgelesen, aus einer Geschichte, die tief unter die Haut geht. Ein Aufseher schlägt Shulamit auf die Hand, als eine Frau ihr ein Stück Brot geben will. Der abgemagerte Handknochen zerbricht. Der letzte Satz „Con moto“ von Brahms beendet den Abend. Er klingt ruhig und schlicht. Die Klarinette hört sich ehrlich, beinahe verletzlich an. Das Werk endet leise, wie eine Erinnerung, die langsam verweht.
Nach diesem Abend verlässt man die Alte Synagoge verändert. Nicht nur erfüllt von Musik, sondern auch von Geschichten der Vergangenheit und Gegenwart, von Erinnerungen und Hoffnung. Ich gehe nach Hause und weiß wie kostbar es ist, leben zu dürfen. Jetzt und heute.