Wut und Trauer Raum geschaffen

Masami Aiko, 35 Jahre

Elektras Tanz von Stefan Keller ist ein Werk, in dem man spezifische Flüsse der Zeit und Räume spüren kann. Zu Beginn des Werkes spielen Streicher (wahrscheinlich Bratschen) zunächst eine kurze Aufwärtsbewegung mit Glissando, die sich wie eine kleine Welle bewegt und während des gesamten Stückes immer wieder erscheint. Dieser etwas klagende, traurige Klang erinnert bereits an die Emotion und Gestaltung der griechischen, mythischen Figur Elektra.

Ich habe das als kriechende Zellen empfunden, wie eine Urenergie und spürte ihre Traurigkeit und ihren Groll, die tief in Elektras Seele und Körper liegen. Im Gegensatz dazu erzeugen die anderen Instrumente ausgehaltene Töne wie große Wellen über eine lange Zeitspanne, aber im Gegensatz zu den Glissando-Figuren, die früher auftauchten, sind die Wellenformen groß und sanft.

Diese sanften Wellen und linearen Klanggebilde sind die wichtigsten kompositorischen Elemente des Stückes, in denen die Zählzeit fast nicht wahrnehmbar sind. Dadurch entsteht das Gefühl, uns in einer rahmenlosen Zeit zu befinden. Außerdem führt uns das Arpeggio des Harfenklangs an einen anderen Ort als hier.

Nachdem ich das ganze Stück gehört hatte, denke ich plötzlich an Maurice Ravel, denn Kellers Instrumentation ist brillant: Elektras Tanz ist in mehrere Teile gegliedert, jeder mit der Glissando-Figur und anderen  musikalischen Elementen. Und sie stellen verschiedene Klänge und Szenen dar, die jeweils mit unterschiedlichen Instrumentenkombinationen und -verwendungen gestaltet sind. Mit anderen Worten, obwohl dieselben Elemente verwendet werden, vermittelt jede Szene einen anderen Klang und Eindruck. Das ist wunderbar.

Zum Beispiel überlappen sich nach dem Solo der Altflöte die verschiedenen Instrumente mit Portamento- und Glissando-Figuren. Dann spielen die anderen Instrumente dort einen ausgehaltenen Ton, der sich langsam zu einem Crescendo aufbaut. An dieser Stelle ändert sich die Besetzung des Instrumentariums, so dass die kaleidoskopartigen Veränderungen der Klangfarben deutlich hörbar werden. In der nächsten Szene ist der Klang wie eine starke, laute Welle, die von einer Gruppe von Streichinstrumenten ausgelöst wird und den Flöten und anderen Instrumente mit ihren kleinen Wellen entgegenkommt.

Im nächsten Abschnitt wird ein anhaltender linearer Klang mit einem langsamen Crescendo gespielt, während eine Gruppe von Diskantinstrumenten einen kräuselnden Klang erzeugt. Dann, in der zweiten Hälfte, erzeugen die Bassinstrumente langsame lineare Töne, die zusammen mit den Schlagzeugen eine kraftvolle Akustik erzeugen. Dies ist eine Szene, in der Elektras Trauer und Groll über die Ermordung ihres Vaters durch ihre Mutter noch stärker zum Ausdruck kommen.

Nach einer Stille, die von kleinen Trommeln und anderen Schlaginstrumenten eingeleitet wird, gipfelt Elektras Tanz in einem starken „Bu —Bu—Bu—„, ähnlich einem Alarmton, der bisher noch nicht erklungen ist, von einer Gruppe von Blasinstrumenten, die zeitweise im Fortissimo erklingen, während die anderen Instrumente ein lineares Klangmuster spielen. Der Ton wird allmählich schwächer und leiser. Die Musik verklingt allmählich, bis nur noch zwei Töne in der kleinen Terz übrig bleiben und dann Stille eintritt. Diese beiden letzten Töne bleiben bestehen. Das muss der Rest von Elektras Trauer und Rache sein.